Poul Anderson: Das Teilen von Fleisch

Vorbemerkung des Übersetzers: Am 1. Februar 2024 hat James Wallace Harris auf seinem Blog Classics of Science Fiction einen Beitrag veröffentlicht, der mich auf eine mir bisher unbekannte Novelle von Poul Anderson aufmerksam gemacht hat. Diese Geschichte habe ich anschließend online gelesen (Read The Sharing of Flesh online free by Poul Anderson (readsonlinefree.com)) und übersetzt (siehe weiter unten); ich habe keinen Hinweis darauf gefunden, dass sie jemals auf Deutsch erschienen wäre.

Hier folgt aber zunächst als Einführung der von mir ebenfalls übersetzte Beitrag von James Wallace Harris (ohne die Illustrationen aus Galaxy, die ich stattdessen in die Übersetzung der Geschichte eingefügt habe):

„The Sharing of Flesh” von Poul Anderson

„The Sharing of Flesh“ von Poul Anderson erschien erstmals in der Ausgabe Dezember 1968 des Galaxy Magazine. Es gewann 1969 einen Hugo Award für die beste Novelle und wurde auch für einen Nebula Award nominiert. Sobald ich die Geschichte in The Hugo Winners Volumes I and II, herausgegeben von Isaac Asimov, zu lesen begonnen hatte, wusste ich, dass ich sie schon zuvor gelesen hatte. Das Problem ist, dass ich mich nicht erinnern kann, wann und wo ich sie zuvor gelesen hatte, und das ärgert mich. Ich erinnere mich schon, dass ich diese Ausgabe von Galaxy damals 1968 bekommen hatte, aber wenn ich sie nur damals gelesen hätte, wäre sie mir nicht so frisch in Erinnerung geblieben. Bei dieser Lesung fühlte es sich so an, als müsste ich sie erst Wochen zuvor gelesen haben. Jeder Teil der Geschichte kam mir, als ich sie las, wieder in Erinnerung.

„The Sharing of Flesh“ handelt von Menschen, die einen Planeten entdecken, der schon zuvor von Menschen kolonisiert, aber vergessen worden war. Dies ist die dritte Geschichte, die ich in den letzten paar Wochen gelesen habe und die dieses Thema verwendete. Die anderen waren Andersons eigenes „The Longest Voyage“ und Nicola Griffiths „Ammonite“. „The Sharing of Flesh“ ist eine Mordgeschichte mit einem soziologischen/biologischen Drall. Es ist die Art von Geschichte, die ich nicht „spoilen“ will, indem ich sie zusammenfasse. Ich würde auf Archive.org verlinken, damit ihr sie online lesen könnt, aber aus dieser Ausgabe von Galaxy ist die Geschichte entfernt worden, was bedeutet, dass die Rechteinhaber von Andersons Nachlass das Herausnehmen verlangt haben. Sie ist verfügbar in Call Me Joe: Volume One of the Short Fiction of Poul Anderson von NESFA Press. (Ich habe sie aber später online gefunden.)

Ich habe ISFDB.org überprüft, um zu sehen, wo „The Sharing of Flesh” nachgedruckt worden ist, und ich besitze keine dieser Anthologien oder Kollektionen außer The Hugo Winners Volume I and II. Ich nehme an, dass ich „The Sharing of Flesh” dort gelesen habe, aber ich denke nicht.

Ich weiß, dass ihr wahrscheinlich denkt, ich sei übermäßig obsessiv bezüglich des Gedächtnisses, aber mich zu erinnern, wann, wo und wie ich eine Geschichte gelesen habe, ist aus zwei Gründen wichtig. Erstens werde ich alt, und ich verliere langsam mein Erinnerungsvermögen. An der Erinnerung zu arbeiten ist eine gute Übung für meinen Geist. Aber zweitens, und wichtiger, die Denkwürdigkeit einer Geschichte ist ein Maß ihrer Qualität. Wenn Worte sich in euren Geist einbrennen und jahrelang dort bleiben, dann gibt es dafür einen guten Grund.

Trotz all der Millionen von veröffentlichten Kurzgeschichten, und der tausenden, die ich gelesen habe, zählen die erinnerungswürdigen nur ein paar hundert, und diejenigen, die es wert sind, ein Leben lang geschätzt zu werden, summieren sich auf eine zweistellige Zahl.

„The Sharing of Flesh“ ist erinnerungswürdig, weil es von etwas Groteskem und Schrecklichem handelt und es bei seiner Auflösung doch um Vergebung geht. Die Geschichte handelt von der Überwindung von Erziehung und Kultur. Sie ist unglaublich positiv. Und doch weiß ich nicht, ob ich „The Sharing of Flesh“ in die Kategorie der Allzeit-Klassiker einordnen würde. Ich muss sie vielleicht ein paar weitere Male lesen, ehe ich mich entscheide. Dennoch denke ich wegen ihr, dass ich mehr von Poul Anderson lesen sollte.

Selbst die Illustrationen aus Galaxy sind mir so vertraut. Ich muss mich fragen, ob ich es damals 1968 gelesen habe. Falls ja, so denke ich nicht, dass ich mich an dieses Mal erinnere. Ich wünschte, ich hätte ein Tagebuch ab der Zeit geführt, als ich erstmals zu lesen begann. Ich habe „The Sharing of Flesh“ wahrscheinlich vor Kurzem gelesen, weil irgendein Blogger es erwähnte. Falls ihr euch erinnert, lasst es mich wissen.

Das ist eine andere Sache, an die ich mich gern erinnern würde. Ich würde mich gern an andere Leute anhand der Geschichten erinnern, die ich liebe. Ich wünschte, ich hätte mich um Erinnerungen zu sorgen begonnen, als ich ein Kind war. Wer hätte gewusst, dass sie mir jetzt so wichtig sein würden?

Ich beginne zu begreifen, dass Geschichten, die ich liebe, wie meine Gene sind; sie definieren, wer ich bin.

James Wallace Harris, 2/1/24

*     *     *

DAS TEILEN VON FLEISCH

Poul Anderson

Moru verstand, was es mit Schusswaffen auf sich hatte. Zumindest hatten die hochgewachsenen Fremden ihren Führern demonstriert, was die Dinger, die jeder von ihnen an seiner Hüfte trug, mit einem Blitz und einer Stichflamme tun konnten. Aber er begriff nicht, dass die kleinen Gegenstände, die sie oft in ihren Händen herumtrugen, während sie in ihrer eigenen Sprache redeten, audiovisuelle Sender waren. Wahrscheinlich hielt er sie für Fetische.

Als er Donli Sairn tötete, tat er es daher in voller Sicht von Donlis Ehefrau.

Das war Zufall. Von vereinbarten Zeiten am Morgen und Abend des achtundzwanzigstündigen Tages des Planeten abgesehen sendete der Biologe wie seine Kameraden nur an seinen Computer. Aber weil sie noch nicht lange verheiratet waren und heillos glücklich waren, empfing Evalyth seine Sendungen, wann immer sie von ihren eigenen Pflichten wegkommen konnte.

Der Zufall, dass sie in diesem einen Moment auf Empfang war, war nicht großartig. Es gab wenig, das sie tun konnte. Als Militech der Expedition – nachdem sie von einem halb barbarischen Teil von Kraken stammte, wo die Geschlechter gleiche Gelegenheiten hatten, für primitive Umwelten geeignete Kampfkünste zu lernen – hatte sie die Errichtung eines Gebäudekomplexes beaufsichtigt; und sie behielt die Routine bei, sie genau im Auge zu behalten. Jedoch waren die Einwohner von Lokon gegenüber den Besuchern vom Himmel so kooperativ, wie es die gegenseitige Rätselhaftigkeit zuließ. Jeder Instinkt und jede Erfahrung versicherte Evalyth Sairn, dass ihre Zurückhaltung nichts als Ehrfurcht maskierte, vielleicht mit einer sehnsüchtigen Hoffnung auf Freundschaft. Captain Jonafer stimmte dem zu. Nachdem ihre Position somit zu einem ziemlichen Ruheposten geworden war, versuchte sie, genug über Donlis Arbeit zu lernen, um eine nützliche Assistentin zu sein, nachdem er vom Tiefland zurückkehrte.

Außerdem hatte ein kürzlicher medizinischer Test bestätigt, dass sie schwanger war. Sie würde es ihm nicht sagen, beschloss sie, noch nicht, über all diese hunderten Kilometer, sondern erst, wenn sie wieder beisammen lagen. Währenddessen machte dass Wissen, dass sie ein neues Leben begonnen hatten, ihn für sie zu einem Leitstern. Am Nachmittag seines Todes betrat sie pfeifend das Biolabor. Draußen traf das Sonnenlicht intensiv und messingfarben auf staubigen Boden, auf Fertigteilbaracken, die sich um das Landeboot drängten, das alle und alles vom Orbit heruntergebracht hatte, wo die New Dawn kreiste; auf die geparkten Flitzer und Gravoschlitten, die Menschen auf der großen Insel herumbeförderten, die das einzige bewohnbare Land auf diesem Globus war; auf die Männer und die Frauen selbst. Jenseits der Umzäunung zeigten fedrige Baumwipfel, ein Blick auf Lehmziegelbauten, ein Gemurmel von Stimmen und gedämpfte Schritte, herangewehter bitterer Holzrauch, dass eine Stadt von mehreren tausend Menschen sich zwischen hier und dem Zelo-See ausdehnte.

Das Biolabor nahm mehr als die Hälfte des Gebäudes ein, wo die Sairns wohnten. Es gab wenig Komfort, wenn Schiffe von einer Handvoll von Kulturen, die sich wieder zur Zivilisation zurückmühten, durch die Ruinen des Imperiums streiften. Für Evalyth jedoch genügte es, dass dies ihr Zuhause war. Sie war sowieso an Askese gewöhnt. Eine Sache, die sie zuerst zu Donli hingezogen hatte, als sie ihm auf Kraken begegnete, war die Fröhlichkeit, mit der er, ein Mann von Atheia, das fast so viele Annehmlichkeiten bewahrt oder wiedergewonnen haben sollte, wie die Alte Erde sie in ihrer Ruhmeszeit gekannt hatte, das Leben in ihrem kargen, grimmigen Land akzeptiert hatte.

Das Schwerkraftfeld hier war 0,77 Standard, weniger als zwei Drittel dessen, worin sie aufgewachsen war. Ihr Gang war locker durch das Durcheinander aus Apparaten und Proben. Sie war eine große junge Frau mit gutaussehendem Körper, eine Spur zu stark in den Gesichtszügen für den Geschmack der meisten Männer außerhalb ihres eigenen Volkes. Sie hatte ihre Blondheit und an den Beinen und Unterarmen ihre komplizierten Tätowierungen; der Blaster an ihrer Taille war über viele Generationen auf sie gekommen. Davon abgesehen hatte sie die Krakener-Kleidung gegen die schlichten Coveralls der Expedition getauscht.

Wie kühl und dämmrig die Baracke war! Sie seufzte vor Vergnügen, setzte sich und aktivierte den Empfänger. Als das Bild sich formte, dreidimensional in der Luft, und Donlis Stimme sprach, hüpfte ihr Herz ein wenig.

„- scheint von einem Klee abzustammen.“

Das Bild zeigte Pflanzen mit grünen dreilappigen Blättern, die niedrig zwischen den rötlichen einheimischen Pseudogräsern verstreut waren. Es schwoll an, als Donli den Sender nahe heranbrachte, damit der Computer Details für eine spätere Analyse aufzeichnen konnte. Evalyth runzelte die Stirn, versuchte sich zu erinnern, was… Oh ja. Klee war eine weitere jener Lebensformen, die der Mensch von der Alten Erde mitgebracht hatte, zu mehr Planeten, als irgendjemand sich jetzt erinnerte, bevor die Lange Nacht herabgesunken war. Oft waren sie buchstäblich nicht wiederzuerkennen; über Tausende von Jahren hatte die Evolution sie an fremde Bedingungen angepasst, oder Mutation und Gendrift hatten auf beinahe zufällige Weise auf kleine Anfangspopulationen eingewirkt. Niemand auf Kraken hatte gewusst, dass Kiefern und Möwen und Rhizobakterien veränderte Einwanderer waren, bis Donlis Besatzung eintraf und sie identifizierte. Nicht dass er, oder irgendjemand aus diesem Teil der Galaxis, es schon zurück zur Mutterwelt geschafft hätte. Aber die atheianischen Datenbanken waren gesteckt voll mit Informationen, und genauso Donlis lieber Lockenkopf –

Und da war seine Hand, riesig im Gesichtsfeld, und sammelte Musterexemplare. Sie wollte sie küssen. Geduld, Geduld, erinnerte der Offiziersteil von ihr die Braut. Wir sind zum Arbeiten hier. Wir haben eine weitere verlorene Kolonie entdeckt, die bisher elendste, die in totale Primitivität zurückgesunken ist. Unsere Pflicht ist es, die Behörde zu informieren, ob sie eine Zivilisierungsmission wert ist, oder ob die mageren Ressourcen, die die Verbündeten Planeten erübrigen können, besser anderswo verwendet wären und man diese Leute für weitere zwei- oder dreihundert Jahre in ihrem Elend lässt. Um einen ehrlichen Bericht zu erstellen, müssen wir sie studieren, ihre Kulturen, ihre Welt. Deshalb bin ich im barbarischen Hochland, und er ist unten im Dschungel unter den völligen Wilden.

Bitte werde bald fertig, Liebling.

Sie hörte Donli im Tieflanddialekt sprechen. Es war eine heruntergekommene Form des Lokonesischen, das wiederum entfernt von Anglic abstammte. Die Linguisten der Expedition hatten die Sprache in ein paar intensiven Wochen enträtselt. Dann ließ das gesamte Personal sich einen Hirnfeed davon geben. Dennoch bewunderte sie, wie schnell ihr Mann die Waldläuferversion davon fließend zu beherrschen gelernt hatte, nach bloß ein paar Tagen der Konversation mit ihnen.

„Kommen wir nicht zu der Stelle, Moru? Du sagtest, das Ding sei nahe an unserem Lager.“

„Wir sind beinahe da, Mann-von-den-Wolken.“

Ein winziger Alarm schlug in Evalyth an. Was ging da vor? Donli hatte doch nicht seine Gefährten verlassen, um allein mit einem Eingeborenen loszuziehen, oder? Rogar von Lokon hatte sie gewarnt, sich in jenen Gegenden vor Verrat in Acht zu nehmen. Aber sicher, erst gestern hatten die Führer Haimie Fiell gerettet, als er in einen schnell strömenden Fluss gestürzt war… mit einigem Risiko für sie selbst…

Die Ansicht hüpfte, als der Sender in Donlis Griff herumschwang. Evalyth wurde davon ein bisschen schwindlig. Ab und zu bekam sie Ausblicke auf das weitere Umfeld. Wald drängte sich um einen Wildwechsel, rostfarbenes Laub, braune Stämme und Äste, Schatten jenseits davon, gelegentlich der harsche Ruf von etwas Unsichtbarem. Sie konnte praktisch die Hitze und das dumpfige Gewicht der Atmosphäre spüren, die unangenehmen scharfen Gerüche wahrnehmen. Diese Welt – die keinen Namen mehr hatte außer Welt, weil die auf ihr Wohnenden vergessen hatten, was Sterne wirklich waren – war schlecht für eine Kolonisation geeignet. Das Leben, das sie hervorgebracht hatte, war oft giftig und immer von mangelhaftem Nährwert. Mit der Hilfe der Spezies, die sie mitgebracht hatten, überlebten die Menschen marginal. Die ursprünglichen Siedler hatten zweifellos Verbesserungen vorgehabt. Aber dann kam der Zusammenbruch – es gab Hinweise darauf, dass ihre einzige Stadt mit Raketen aus der Existenz gelöscht worden war, und die Mehrheit der Menschen mit ihr -, und es fehlte an Ressourcen für einen Wiederaufbau; das Wunder bestand darin, dass irgendetwas Menschliches außer Knochen erhalten blieb.

„Nun da, Mann-von-den-Wolken.“

Die schwankende Szenerie wurde ruhig. Stille summte aus dem Dschungel in die Hütte. „Ich sehe nichts“, sagte Donli schließlich.

„Folge mir. Ich zeigen.“

Donli steckte seinen Sender in die Astgabel eines Baumes. Er nahm ihn und Moru auf, während sie über eine Wiese gingen. Der Führer sah kindhaft aus neben dem Raumfahrer, reichte ihm kaum bis zur Schulter; ein altes Kind jedoch, der beinahe nackte Körper von Narben bedeckt und der rechte Fuß lahm von irgendeiner Verletzung in der Vergangenheit, das Gesicht runzelig in einem großen schwarzen Busch aus Haar und Bart. Er, der nicht jagen konnte, sondern nur fischen und Fallen stellen, um seine Familie zu erhalten, war noch verarmter als seine Stammesgenossen. Er musste in der Tat glücklich gewesen sein, als der Flitzer nahe ihrem Dorf gelandet war und die Fremden fabelhafte Tauschgüter dafür boten, dass man sie eine Woche oder zwei im Land herumführte. Donli hatte für Evalyth das Bild von Morus Strohhütte projiziert – die erbärmlich wenigen Besitztümer, die Frau bereits verbraucht von der Arbeit, die überlebenden Söhne, die im Alter von angeblich sieben oder acht, was zwölf oder dreizehn Standardjahren entsprechen würde, verschrumpelte Gnome waren.

Rogar schien zu erklären – die lokonesische Sprache war noch keineswegs perfekt verstanden -, dass die Tiefländer weniger arm wären, wenn sie nicht solch ein bösartiger Haufen wären, jeder Stamm ewig im Krieg mit anderen. Aber in Wirklichkeit, dachte Evalyth, welche mögliche Bedrohung können sie sein?

Morus Ausrüstung bestand aus einem Lendenriemen, eine Schnur um seinen Körper, um Fallschlingen herzustellen, ein Obsidianmesser und ein Rucksack, der so gewoben und eingefettet war, dass er bei Bedarf Flüssigkeiten aufnehmen konnte. Die anderen Männer seiner Gruppe, die in der Lage waren, Wild zu verfolgen und einen Anteil an der Beute zu gewinnen, indem sie an Kämpfen teilnahmen, waren merklich wohlhabender. Sie sahen jedoch nicht viel anders aus. Ohne Raum für eine Expansion musste die Inselbevölkerung stark durch Inzucht geprägt sein.

Der zwergenhafte Mann ging in die Hocke und teilte einen Busch mit seinen Händen. „Hier“, grunzte er und stand wieder auf.

Evalyth kannte recht gut die Ungeduld, die das in Donli entfachte. Dennoch drehte er sich um, lächelte direkt in den Sender und sagte auf Atheianisch: „Vielleicht siehst du zu, Liebste. Falls ja, so würde ich das gern mit dir teilen. Es könnte ein Vogelnest sein.“

Sie erinnerte sich vage, dass die Existenz von Vögeln eine ökologisch wichtige Information wäre. Was zählte, war, was er gerade zu ihr gesagt hatte. „Oh ja, oh ja!“ wollte sie schreien. Aber seine Gruppe hatte nur zwei Empfänger dabei, und er trug keinen davon.

Sie sah ihn in der hohen, missfarbigen Vegetation niederknien. Sie sah ihn mit der Sanftheit, die sie ebenfalls kannte, in den Busch greifen und dessen Zweige vorsichtig beiseite biegen.

Sie sah Moru auf seinen Rücken springen. Der Wilde schlang seine Beine um Donlis Mitte. Seine linke Hand packte Donlis Haar und zog den Kopf zurück. Das Messer flog in seiner rechten Hand zurück.

Blut spritzte unter Donlis Kiefer hervor. Er konnte nicht schreien, nicht mit einer aufklaffenden Kehle; er konnte nur gurgeln und krächzen, während Moru die Wunde erweiterte. Er griff blind nach seiner Waffe. Moru ließ das Messer fallen und packte seine Arme; sie fielen in dieser Umarmung um, Donli drosch und flatterte im Spritzen seines eigenen Blutes. Moru hielt sich fest. Der Busch zitterte um sie herum und verbarg sie, bis Moru rot und tropfend aufstand, bemalt, keuchend, und Evalyth in den Sender neben ihr schrie, in das Universum, und sie schrie weiter und wehrte sich, als sie versuchten, sie von der Szene in der Wiese wegzuholen, wo Moru an seine Schlächterarbeit ging, bis etwas sie mit Kühle stach und sie in den Boden des Universums fiel, dessen Sterne alle für immer erloschen waren.

*     *     *

Haimie Fiell sagte durch weiße Lippen: „Nein, natürlich wussten wir es nicht, bis Sie uns alarmierten. Er und diese – Kreatur – waren mehrere Kilometer von unserem Lager entfernt. Warum haben Sie uns ihn nicht sofort verfolgen lassen?“

„Wegen dem, was wir in der Sendung gesehen hatten“, antwortete Captain Jonafer. „Sairn war unwiederbringlich tot. Sie hätten in einen Hinterhalt geraten können, mit Pfeilen in den Rücken oder sowas, wenn Sie diese schmalen Pfade entlanggelaufen wären. Es war am besten, dass Sie blieben, wo Sie waren, bis wir Ihnen ein Fahrzeug schicken konnten.“

Fiell sah an dem großen grauhaarigen Mann vorbei, durch die Tür der Kommandohütte hinaus, zur Umzäunung und in den mitleidlosen Mittagshimmel. „Aber was dieses kleine Ungeheuer währenddessen tat –“ Abrupt schloss er den Mund.

Ebenso hastig sagte Jonafer: „Die anderen Führer rannten weg, haben Sie mir gesagt, sobald sie spürten, dass Sie zornig waren. Ich hatte gerade einen Bericht von Kallaman. Sein Team ist mit dem Flitzer zum Dorf geflogen. Es ist verlassen. Der ganze Stamm hat die Zelte abgebrochen. Fürchtet sich offensichtlich vor unserer Rache. Obwohl es keine große Arbeit ist zu übersiedeln, wenn man seine Haushaltsgüter auf dem Rücken tragen und innerhalb eines Tages ein neues Haus weben kann.“

Evalyth lehnte sich vor. „Hören Sie auf, mir auszuweichen“, sagte sie. „Was hat Moru mit Donli getan, dass Sie verhindert hätten, wenn Sie rechtzeitig eingetroffen wären?“

Fiell schaute weiter an ihr vorbei. Schweiß glänzte in Tröpfchen auf seiner Stirn. „Eigentlich nichts“, murmelte er. „Nichts, was eine Rolle spielte… sobald der Mord selbst einmal begangen war.“

„Ich wollte Sie fragen, welche Art von Bestattung Sie für ihn wollen, Lieutenant Sairn“, sagte Jonafer zu ihr. „Soll die Asche hier begraben werden, oder nach unserem Abflug im Weltraum verstreut, oder nach Hause gebracht?“

Evalyth wandte ihm ihren Blick voll zu. „Ich habe nie erlaubt, dass er… eingeäschert wird, Captain“, sagte sie langsam.

„Nein, aber – nun, seien Sie realistisch. Sie waren zuerst unter Narkose, dann schwer sediert, während wir den Leichnam bargen. Zeit war vergangen. Wir haben keine Ausrüstung für, ähm, kosmetische Reparaturen, noch irgendwelchen Extra-Kühlraum, und in dieser Hitze –“

Seit sie aus dem Krankenrevier entlassen worden war, hatte es eine Art von Betäubtheit in Evalyth gegeben. Sie konnte die Tatsache nicht völlig begreifen, dass Donli nicht mehr da war. Es schien, als könnte er jeden Moment jene Tür da füllen, Sonnenlicht auf seinen Schultern, und er würde ihr zurufen, lachen und sie nach einem bedeutungslosen Alptraum trösten, den sie gehabt hatte. Das war die Wirkung der Psychodrogen, wie sie wusste, und sie verdammte die Freundlichkeit des Sanitäters.

Sie war beinahe froh, einen langsam aufsteigenden Zorn zu fühlen. Es bedeutete, dass die Wirkung der Medikamente nachließ. Bis zum Abend würde sie in der Lage sein zu weinen.

„Captain“, sagte sie, „ich sah, wie er getötet wurde. Ich habe schon zuvor Todesfälle gesehen, manche davon ziemlich unschön. Wir maskieren die Wahrheit auf Kraken nicht. Sie haben mich um mein Recht betrogen, meinen Mann hinzulegen und seine Augen zu schließen. Sie werden mich nicht um mein Recht betrügen, Gerechtigkeit zu erlangen. Ich verlange genau zu wissen, was geschehen ist.

Jonafers Fäuste verknoteten sich auf seinem Tisch. „Ich kann es kaum ertragen, es Ihnen zu erzählen.“

„Aber das sollen Sie, Captain.“

„Na gut! Na gut!“ rief Jonafer. Die Worte sprangen wie Geschosse heraus. „Wir sahen, was das Ding gesendet hat. Er zog Donli aus, hing ihn an den Fersen an einen Baum, ließ ihn in diesen Rucksack ausbluten. Er schnitt die Genitalien ab und warf sie zu dem Blut hinein. Er öffnete den Körper und nahm Herz, Lunge, Leber, Nieren, Schilddrüse, Prostata und Bauchspeicheldrüse heraus und lud sie sich ebenfalls auf, und lief in die Wälder davon. Wundert es Sie, warum wir Sie nicht sehen ließen, was übrig war?“

„Die Lokonesen warnten uns vor den Dschungelbewohnern“, sagte Fiell dumpf. „Wir hätten auf sie hören sollen. Aber sie schienen armselige Zwerge zu sein. Und sie haben mich aus dem Fluss gerettet. Als Donli wegen der Vögel fragte – sie beschrieb, weißt du, und fragte, ob irgendetwas in der Art bekannt sei – Moru sagte ja, aber sie seien selten und scheu; unsere Gruppe würde sie verscheuchen; aber wenn ein Mann mit ihm käme, könnte er ein Nest finden, und sie würden vielleicht den Vogel sehen. Ein Haus nannte er es, aber Donli dachte, er meinte ein Nest. So sagte er uns jedenfalls. Es war ein Gespräch mit Moru, als sie gerade ein Stück abseits waren, in Sichtweite, aber außer Hörweite. Vielleicht hätte uns das alarmieren sollen, vielleicht hätten wir die anderen Stammesleute fragen sollen. Aber wir sahen keinen Grund dafür – ich meine, Donli war größer, stärker und mit einem Blaster bewaffnet. Welcher Wilde würde es wagen, ihn anzugreifen? Und überhaupt waren sie freundlich gewesen, richtiggehend ausgelassen, nachdem sie über ihre anfängliche Furcht vor uns hinweg waren, und sie hatten genauso viel Verlangen nach weiteren Kontakten gezeigt wie jeder hier in Lokon, und –“ Seine Stimme verlor sich.

„Hat er Werkzeuge oder Waffen gestohlen?“ fragte Evalyth.

„Nein“, sagte Jonafer. „Ich habe alles da, was Ihr Mann bei sich hatte, und kann es Ihnen geben.“

Fiell sagte: „Ich denke nicht, dass es ein Akt des Hasses war. Moru musste irgendeinen abergläubischen Grund gehabt haben.“

Jonafer nickte. „Wir können ihn nicht nach unseren Standards beurteilen.“

„Nach wessen dann?“ erwiderte Evalyth. Ob Supertranquilizer oder nicht, sie war überrascht über die Ausgeglichenheit ihrer eigenen Tonart. „Ich bin von Kraken, wie Sie wissen. Ich werde nicht zulassen, dass Donlis Kind geboren wird und aufwächst im Wissen, dass er ermordet wurde und niemand versuchte, Gerechtigkeit für ihn zu üben.“

„Sie können nicht Rache an einem ganzen Stamm nehmen“, sagte Jonafer.

„Das habe ich nicht vor. Aber Captain, das Personal dieser Expedition stammt von mehreren verschiedenen Planeten, von denen jeder seine charakteristischen Gesellschaften hat. Die Artikel besagen spezifisch, dass die essenzielle Moral jedes Mitglieds respektiert werden soll. Ich möchte von meinen regulären Pflichten entbunden werden, bis ich den Mörder meines Mannes festgenommen und Gerechtigkeit an ihm geübt habe.“

Jonafer neigte seinen Kopf. „Das muss ich gewähren“, sagte er leise.

Evalyth stand auf. „Danke, meine Herren“, sagte sie. „Wenn Sie mich entschuldigen wollen, werde ich meine Ermittlungen sofort beginnen.“

– Solange sie noch eine Maschine war, bevor die Wirkung der Medikamente nachließ.

*     *     *

Im trockeneren, kühleren Hochland war Landwirtschaft möglich geblieben, nachdem die Kolonie ansonsten die Zivilisation verloren hatte. Felder und Haine, sorgfältig kultiviert mit jungsteinzeitlichen Werkzeugen, ernährten einige verstreute Dörfer und die Hauptstadt Lokon.

Seine Menschen hatten eine Familienähnlichkeit mit den Waldbewohnern. Es konnten wirklich nur weniger Siedler überlebt haben, um die Vorfahren der Menschheit dieser Welt zu werden. Aber die Hochlandbewohner waren besser genährt, größer, aufrechter. Sie trugen farbenfroh gefärbte Tuniken und Sandalen. Die Gutsituierten fügten Schmuck aus Gold und Silber hinzu. Haar wurde geflochten, Kinne rasiert gehalten. Die Leute gingen offen einher, ohne die ständige Furcht der Wilden vor Hinterhalten, und redeten fröhlich.

Sicher, dies traf strenggenommen nur für die Freien zu. Während die Anthropologen der New Dawn noch kaum damit begonnen hatten, die alle Einzelheiten der Kultur zu enträtseln, war es von Anfang an offensichtlich gewesen, dass Lokon sich eine große Sklavenklasse hielt. Manche waren gepflegte Hausdiener. Mehr schufteten unterwürfig und nackt auf den Feldern, in den Steinbrüchen, den Minen, unter den Peitschen der Aufseher und der Bewachung der Soldaten, deren Speerspitzen und Schwerter aus uraltem imperialem Metall bestanden. Aber keiner der Raumfahrer war übermäßig schockiert. Sie hatten anderswo Schlimmeres gesehen. Historische Datenbanken beschrieben Orte in alter Zeit, die Athen, Indien und Amerika genannt wurden.

Evalyth schritt gewundene, staubige Straßen entlang, zwischen den bunt bemalten Wänden kubischer, fensterloser Häuser aus Adobeziegeln. Einfache Bürger, die ihren Aufgaben nachgingen, grüßten respektvoll. Obwohl niemand mehr fürchtete, dass die Fremden ihnen schaden wollten, ragte sie doch über dem größten Mann auf, ihr Haar war gefärbt wie Metall und ihre Augen wie der Himmel, sie trug den Blitz an ihrer Taille, und niemand wusste, was sonst noch für gottähnliche Kräfte.

Heute beugten auch Soldaten und Edelleute das Knie, während Sklaven auf ihre Gesichter sanken. Wo sie erschien, verschwand das Schwatzen und Plauern des Alltagslebens; das Geschäft auf dem Marktplatz stand still, wenn sie an den Ständen vorbeiging; Kinder hörten mit ihren Spielen auf und flohen; sie ging in einer Stille ähnlich der Stille in ihrer Seele. Unter der Sonne und dem Schneekegel des Mount Burus brütete der Schrecken. Denn inzwischen wusste Lokon, dass ein Mann von den Sternen von einem Unmenschen des Tieflandes getötet worden war; und wozu würde das führen?

Die Nachricht von ihrem Kommen musste ihr jedoch zu Rogar vorausgeeilt sein, nachdem er sie in seinem Haus am Zelo-See neben dem Heiligen Ort erwartete. Er war kein König oder Ratspräsident oder Hohepriester, aber er war etwas von allen dreien, und er war es, der am meisten mit den Fremden zu tun hatte.

Seine Behausung war von der üblichen Art, größer als der Durchschnitt, erschien aber zwergenhaft neben den angrenzenden Mauern. Diese umschlossen eine riesige Anlage, gefüllt mit Gebäuden, in die keiner der Außenweltler eingelassen worden war. Wachen in scharlachroten Roben und grotesk geschnitzten hölzernen Helmen standen immer an ihren Toren. Heute war ihre Zal verdoppelt, und andere flankierten Rogars Tür. Der See glänzte hinter ihnen wie polierter Stahl. Die Bäume entlang des Ufers sahen gleichermaßen streng aus.

Rogars Majordomus, ein fetter, ältlicher Sklave, warf sich im Eingang nieder, als Evalyth sich näherte. „Wenn die Himmelsfliegerin sich herablassen möge, diesem Unwürdigen zu folgen, Klev Rogar ist drinnen –“ Die Wachen senkten grüßend ihre Speere vor ihr. Ihre Augen waren weit und angstvoll.

Wie die anderen Häuser war dieses nach innen gewandt. Rogar saß auf einem Podium in einem Raum, der sich in einen Hof öffnete. Er erschien doppelt kühl und dämmerig im Gegensatz zu dem Sonnenglast draußen. Sie konnte kaum die Fresken an den Wänden ausmachen oder die Muster auf dem Teppich; sie waren sowieso grobe Kunst. Ihre Aufmerksamkeit konzentrierte sich auf Rogar. Er stand nicht auf, nachdem das hier kein Zeichen des Respekts war. Stattdessen neigte er seinen ergrauten Kopf über gefalteten Händen. Der Majordomus bot ihr eine Sitzbank an, und Rogars Hauptfrau stellte eine Bombilla mit Kräutertee vor sie, bevor sie verschwand.

„Sei gegrüßt, Klev“, sagte Evalyth förmlich.

„Sei gegrüßt, Himmelsfliegerin.“ Nun allein, beschattet vor der grausamen Sonne, hielten sie eine rituelle Schweigeperiode ein.

Dann: „Das ist schrecklich, was geschehen ist, Himmelsfliegerin“, sagte Rogar. „Vielleicht weißt du nicht, dass meine weiße Robe und die bloßen Füße Trauer anzeigen wie für jemand von meinem eigenen Blut.“

„Das ist wohlgetan“, sagte Evalyth. „Wir werden uns daran erinnern.“

Die Würde des Mannes wankte. „Du verstehst, dass niemand von uns irgendetwas mit dem Bösen zu tun hatte, oder? Die Wilden sind auch unsere Feinde. Sie sind Ungeziefer. Unsere Vorfahren haben einige gefangen und sie zu Sklaven gemacht, aber sie sind für nichts sonst gut. Ich habe deine Freunde gewarnt, nicht zu jenen hinunterzugehen, die wir nicht gezähmt haben.“

„Es war ihr Wunsch, das zu tun“, antwortete Evalyth. „Nun ist es mein Wunsch, Rache für meinen Mann zu bekommen.“ Sie wusste nicht, ob es in dieser Sprache ein Wort für Gerechtigkeit gab. Egal. Wegen de Medikamente, die die logischen Fähigkeiten steigerten, während sie die Emotionen dämpften, sprach sie Lokonesisch gut genug für ihre Zwecke.

„Wir können Soldaten holen und dir helfen, so viele zu töten, wie du willst“, bot Rogar an.

„Nicht nötig. Mit dieser Waffe an meiner Seite kann ich allein mehr vernichten, als es eure Armee könnte. Ich möchte deine Rat und deine Hilfe in einer anderen Sache. Wie kann ich den finden, der meinen Mann tötete?“

Rogar runzelte die Stirn. „Die Wilden können in weglosen Dschungel verschwinden, Himmelsfliegerin.“

„Können sie aber auch vor anderen Wilden verschwinden?“

„Ah! Schlau gedacht, Himmelsfliegerin. Diese Stämme gehen einander endlos an die Kehle. Wenn wir Kontakt zu einem herstellen können, werden seine Jäger bald für dich erfahren, wo das Volk des Mörders sich hinbegeben hat.“ Sein Stirnrunzeln wurde tiefer. „Aber er muss von ihnen fortgegangen sein, um sich zu verstecken, bist ihr unser Land verlassen habt. Ein einzelner Mann ist vielleicht unmöglich zu finden. Tiefländer sind notgedrungen gut darin, sich zu verstecken.“

„Was meinst du mit notgedrungen?“

Rogar zeigte Überraschung über ihr Nichtbegreifen dessen, was für ihn offensichtlich war. „Nun, denk‘ an einen Mann, der zum Jagen draußen ist“, sagte er. „Er kann nicht auf jede Art von Wild mit Gefährten Jagd machen, sonst würde das Geräusch und der Geruch es verscheuchen. Daher ist er oft allein im Dschungel. Es könnte leicht sein, dass jemand von einem anderen Stamm ihn überfällt. Ein Mann, den man beschleicht und tötet, ist genauso nützlich wie einer, der im offenen Krieg erschlagen wird.“

„Warum dieses unaufhörliche Kämpfen?“

Rogars verblüffter Gesichtsausdruck wurde stärker. „Wie sonst sollten sie Menschenfleisch bekommen?“

„Aber sie leben nicht davon!“

„Nein, sicherlich nicht, außer wenn nötig. Aber diese Notwendigkeit kommt viele Male, wie du weißt. Ihre Kriege sind ihre hauptsächliche Art, Männer zu erwischen; Beute ist auch gut, aber nicht der Hauptgrund zu kämpfen. Demjenigen, der tötet, gehört die Leiche, und natürlich teilt er sie allein unter seiner eigenen engen Verwandtschaft auf. Nicht jeder hat Glück im Kampf. Daher kann es leicht sein, dass jene, die keine Chance hatten, in einem Krieg zu töten, separat auf die Jagd gehen, zwei oder drei von ihnen zusammen, in der Hoffnung, einen einzelnen Mann von einem anderen Stamm zu finden. Und das ist der Grund, warum ein Tiefländer gut darin ist, sich zu verbergen.“

Evalyth bewegte sich weder, noch sprach sie. Rogar holte tief Luft und setzte seinen Erklärungsversuch fort: „Himmelsfliegerin, als ich die böse Nachricht hörte, sprach ich lange mit Männern aus deiner Gruppe. Sie erzählten mir, was sie aus der Ferne mit den wunderbaren Mitteln gesehen hatten, über die ihr gebietet. Daher ist mir klar, was geschehen ist. Dieser Führer – was ist sein Name? Ja, Moru – er ist ein Krüppel. Er hatte keine Hoffnung, selbst einen Mann zu töten, außer durch Verrat. Als er diese Chance sah, ergriff er sie.“

Er riskierte ein Lächeln. „Das würde im Hochland nie passieren“, erklärte er. „Wir führen keine Kriege, außer wenn wir angegriffen werden, noch jagen wir unsere Mitmenschen, als ob sie Tiere wären. Wie die deine ist unsere Rasse eine zivilisierte.“ Seine Lippen entblößten verblüffend weiße Zähne. „Aber Himmelsfliegerin, dein Mann wurde getötet. Ich schlage vor, dass wir Rache nehmen, nicht einfach nur an dem Mörder, wenn wir ihn fangen, sondern an seinem Stamm, den wir gewiss finden können, wie du meintest. Das wird all die Wilden lehren, sich vor jenen in Acht zu nehmen, die über ihnen stehen. Hinterher können wir uns das Fleisch aufteilen, eine Hälfte für dein Volk, eine Hälfte für meines.“

Evalyth konnte nur ein intellektuelles Erstaunen zustande bringen. Und doch hatte sie das Gefühl, über die Kante einer Klippe gegangen zu sein. Sie starrte durch die Schatten, in das ernste alte Gesicht, und nach einer langen Zeit hörte sie sich flüstern: „Ihr… hier… esst auch… Menschen?“

„Sklaven“, sagte Rogar. „Nicht mehr als erforderlich. Einer von ihnen genügt für vier Jungen.“

Ihre Hand fiel auf ihre Waffe. Rogar sprang erschreckt auf. „Himmelsfliegerin“, rief er aus, „Ich sagte dir, dass wir zivilisiert sind. Fürchte niemals einen Angriff von irgendjemandem von uns! Wir – wir…“

Sie erhob sich ebenfalls, stand hoch über ihm. Las er ein Urteil in ihrem Blick? War der Schrecken, der ihn packte, von Sorge um sein ganzes Volk motiviert? Er duckte sich vor ihr, schwitzend und schaudernd. „Himmelsfliegerin, glaub mir, ihr habt keinen Streit mit Lokon – nein, nun, lass‘ mich es dir zeigen, lass dich von mir an den Heiligen Ort führen, auch wenn du keine Eingeweihte bist… denn sicherlich bist du den Göttern ähnlich, sicherlich werden die Götter nicht beleidigt sein… Komm, lass‘ dir von mir zeigen, wie es ist, lass‘ mich beweisen, dass wir keinen Willen und keine Notwendigkeit haben, eure Feinde zu sein…“

Da war das Tor, das Rogar für sie in dieser massiven Mauer öffnete. Da waren die schockierten Mienen der Wachen und laute Versprechungen vieler Opfer, um die Mächte zu beschwichtigen. Da war das Steinpflaster jenseits davon, heiß und unter den Schritten hohl klingend. Da waren die grinsenden Götzenbilder um einen zentralen Tempel. Da war das Haus der Altardiener, die die Arbeit taten und die furchtsam zusammenschrumpften, als sie sahen, wie ihr Meister eine Fremde hereinführte. Da waren die Sklavenbaracken.

„Sieh, Himmelsfliegerin, sie werden gut behandelt, oder? Wir müssen zwar ihre Hände und Füße zermalmen, wenn wir sie als Kinder für diesen Dienst auswählen. Denk‘ daran, wie gefährlich es ansonsten wäre, Hunderte von Knaben und jungen Männern hier drin. Aber wir behandeln sie freundlich, sofern sie sich nicht danebenbenehmen. Sind sie nicht fett? Ihre eigene Heilige Nahrung ist besonders ehrenwert, Leichen von Männern aller Stände, die in ihrer vollen Kraft gestorben sind. Wir lehren sie, dass sie in jenen weiterleben werden, für die sie getötet werden. Die meisten sind damit zufrieden, glaub‘ mir, Himmelsfliegerin. Frag‘ sie selbst… aber denk‘ daran, sie werden dumm, wenn sie Jahr um Jahr nichts zu tun haben. Wir schlachten sie schnell und sauber, am Anfang jedes Sommers – nicht mehr, als wir müssen für die Zahl der Jungen, die in diesem Jahr in das Mannesalter eintreten, einen Sklaven für vier Jungen, nicht mehr. Und es ist ein sehr schönes Ritual, mit Tagen des Schmausens und der Lustbarkeiten danach. Verstehst du jetzt, Himmelsfliegerin? Ihr habt nichts von uns zu befürchten. Wir sind keine Wilden, die Kriege führen und Überfälle verüben und herumschleichen, um unser Männerfleisch zu bekommen. Wir sind zivilisiert – nicht gottähnlich wie ihr, nein, ich wage das nicht zu behaupten, sei nicht zornig – aber zivilisiert – sicherlich eurer Freundschaft würdig, oder nicht? Sind wir das nicht, Himmelsfliegerin?“

*     *     *

Chena Darnard, die das Kulturanthropologieteam leitete, wies ihren Computer an, seine Datenbank zu durchsuchen. Wie die anderen war es ein tragbarer, dessen Speicher in der New Dawn eingebaut war. In diesem Moment befand das Raumschiff sich über der gegenüberliegenden Hemisphäre, und wahrnehmbare Zeit verstrich, während Strahlen über die lang aufgereihten Relaiseinheiten hin und her gingen.

Chena lehnte sich zurück und studierte Evalyth über ihren Schreibtisch hinweg. Das Krakener-Mädchen saß so still da. Es erschien unnatürlich, trotzdem die Drogen in ihrem Blutkreislauf noch etwas Wirkung behielten. Sicher, Evalyth war von aristokratischer Abstammung in einer kriegerischen Gesellschaft. Außerdem mochte es erbliche psychologische und physiologische Unterschiede auf den verschiedenen Welten geben. Nicht viel war darüber bekannt, abgesehen von extremen Fällen wie Gwydion (oder diesem Planeten?). Trotzdem, dachte Chena, wäre es besser, wenn Evalyth sich einfachem Schock und Kummer hingeben würde.

„Bist du dir deiner Fakten ganz sicher, meine Liebe?“ fragte die Anthropologin so sanft wie möglich. „Ich meine, während allein diese Insel bewohnbar ist, so ist sie doch groß, die Topografie ist schroff, die Kommunikation ist primitiv; meine Gruppe hat schon eine Menge separater Kulturen entdeckt.“

„Ich habe Rogan mehr als eine Stunde lang befragt“, antwortete Evalyth mit derselben tonlosen Stimme, mit denselben ausdruckslosen Augen wie zuvor. „Ich kenne Verhörtechniken, und er war schwer verunsichert. Er hat geredet. Die Lokonesen selbst sind nicht so rückständig wie ihre Technologie. Sie haben jahrhundertelang damit gelebt, dass Wilde ihre Grenzländer bedrohten. Das hat sie dazu gebracht, ein gutes nachrichtendienstliches Netzwerk zu entwickeln. Rogar hat mir dessen Funktion detailliert beschrieben. Es hält sie einigermaßen gut darüber auf dem Laufenden, was vorgeht. Und während Stammesgebräuche doch enorm variieren, ist der Kannibalismus universal. Das ist der Grund, warum keiner der Lokonesen daran dachte, ihn uns gegenüber zu erwähnen. Sie nahmen als selbstverständlich an, dass wir unsere eigene Art der Beschaffung von Menschenfleisch hätten.“

„Die Leute haben, mmm… Spielraum bei diesen Methoden?“

„Oh ja. Hier züchten sie Sklaven für diesen Zweck. Aber die meisten Tiefländer haben eine dafür zu spärliche Wirtschaft. Manche von ihnen benutzen Krieg und Mord. Bei anderen regeln sie es innerhalb des Stammes mit jährlichen Kämpfen. Oder – wenn kümmert es? Tatsache ist, dass überall in diesem Land, auf welche Weise auch immer, die Knaben ein Pubertätsritual durchmachen, zu dem das Essen eines erwachsenen Mannes gehört.“

Chena biss sich auf die Lippe. „Was im Namen des Chaos könnte das ausgelöst haben? Computer! Hast du gescannt?“

„Ja“, sagte die Maschinenstimme aus dem Gehäuse auf ihrem Schreibtisch. „Daten über Kannibalismus beim Menschen sind vergleichsweise spärlich, weil es eine Seltenheit ist. Auf allen Planeten, die uns bisher bekannt sind, ist er verboten und war das während ihrer gesamten Geschichte, obwohl er manchmal als verzeihliche Notmaßnahme betrachtet wird, wenn kein alternatives Mittel zur Erhaltung des Lebens verfügbar ist. Sehr begrenzte Formen dessen, was man zeremoniellen Kannibalismus nennen könnte, sind vorgekommen, zum Beispiel das Trinken winziger Mengen von Blut des jeweils Anderen beim Gelöbnis der Eidbruderschaft unter den Falkens von Lochlanna –“

„Lass‘ gut sein“, sagte Chena. Eine Spannung in ihrer Kehle veränderte ihre Stimme. „Nur hier, scheint es, sind sie so weit degeneriert dass… Oder ist es Degeneriertheit? Rückfall, vielleicht? Was ist mit der Alten Erde?“

„Die Informationen sind bruchstückhaft. Abgesehen von dem, was während der Langen Nacht verlorenging, wird das Wissen dadurch behindert, dass die letzten primitiven Gesellschaften dort verschwanden, bevor die interstellare Raumfahrt begann. Aber es sind gewisse Daten erhalten, die von Althistorikern und Wissenschaftlern gesammelt wurden.

Kannibalismus war gelegentlich Teil von Menschenopfern. In der Regel blieben die Opfer ungegessen. Aber bei einer Minderheit der Religionen wurden die Leichen, oder ausgewählte Teile davon, verzehrt, entweder durch eine besondere Klasse oder durch die Gemeinschaft als Ganzes. Allgemein wurde das als Theophagie betrachtet. Daher opferten die Azteken von Mexiko ihren Göttern jährlich Tausende von Individuen. Die Notwendigkeit, das zu tun, zwang sie dazu, Kriege und Rebellionen zu provozieren, was es wiederum den schließlich kommenden europäischen Eroberer leicht machte, eingeborene Verbündete zu gewinnen. Die Mehrheit der Gefangenen wurde einfach geschlachtet, ihre Herzen direkt den Götzenbildern gegeben. Aber in mindestens einem Kult wurde die Leiche unter seinen Gläubigen aufgeteilt.

Kannibalismus konnte auch eine Form von Magie sein. Durch das Essen eines Menschen erwarb man angeblich dessen Stärken. Dies war das Hauptmotiv der Kannibalen Afrikas und Polynesiens, Zeitgenössische Beobachter berichteten, dass die Mahlzeiten genossen wurden, aber das ist leicht verständlich, besonders in proteinarmen Gegenden.

Der einzige aufgezeichnete Fall von systematischem nicht-zeremoniellem Kannibalismus fand unter den Kariben-Indianern Amerikas statt. Sie aßen Menschen, weil sie Menschen bevorzugten. Besonders mochten sie Babies, und sie fingen Frauen aus anderen Stämmen als Zuchtmaterial. Männliche Kinder dieser Sklaven wurden im Allgemeinen kastriert, um sie fügsam und zart zu machen. Zum großen Teil wegen ihrer starken Abneigung gegen solche Praktiken rotteten die Europäer die Kariben bis auf den letzten Mann aus.“

Der Bericht endete. Chena schnitt eine Grimasse. „Ich kann es den Europäern nachfühlen“, sagte sie.

Evalyth hatte vielleicht einmal ihre Augenbrauen angehoben; aber ihr Gesicht blieb so hölzern wie ihre Rede. „Solltest du nicht eine objektive Wissenschaftlerin sein?“

„Ja. Ja. Dennoch gibt es so etwas wie Werturteile. Und sie haben Donli getötet.“

„Nicht sie. Einer von ihnen. Ich werde ihn finden.“

„Er ist nichts als ein Geschöpf seiner Kultur, meine Liebe, krank zusammen mit seiner ganzen Rasse.“ Chena holte Luft und bemühte sich um Ruhe. „Offensichtlich ist die Krankheit zu einer Grundlage des Verhaltens geworden“, sagte sie. „Ich wage zu behaupten, dass sie ihren Ursprung in Lokon hatte. Kulturelle Radiation findet praktisch immer von den fortgeschritteneren Völkern zu den weniger fortgeschrittenen statt. Und nach Jahrhunderten auf einer einzigen Insel ist kein Stamm der Infektion entgangen. Die Lokonesen arbeiteten die Praktik später aus und rationalisierten sie. Die Wilden beließen deren Grausamkeit nackt. Aber ob Hochländer oder Tiefländer, ihre Lebensweise ist auf diesem bestimmten Menschenopfer begründet.“

„Kann man sie etwas anderes lehren“ fragte Evalyth ohne wirkliches Interesse.

„Ja. Mit der Zeit. In der Theorie. Aber – nun, ich weiß doch genug darüber, was auf der Alten Erde geschah, und anderswo, wenn fortgeschrittene Gesellschaften daran gingen, primitive zu reformieren. Die gesamte Struktur wurde zerstört. Das musste sein. Denk‘ an das Ergebnis, wenn wir diesen Leuten sagen würden, sie sollten mit ihrem Pubertätsritual aufhören. Sie würden nicht zuhören. Sie könnten es nicht. Sie müssen Enkelkinder haben. Sie wissen, dass ein Junge kein Mann wird, sofern er nicht einen Teil eines Mannes gegessen hat. Wir müssten sie unterwerfen, die meisten töten und aus dem Rest mürrische Gefangene machen. Und wenn der nächste Jahrgang von Jungen tatsächlich ohne die magische Nahrung heranreifen würde… was dann? Kannst du dir die Demoralisierung vorstellen, das Gefühl völliger Minderwertigkeit, den Verlust dieser Tradition, die der Kern jeder persönlichen Identität ist? Es wäre vielleicht freundlicher, diese Insel steril zu bomben.“

Chena schüttelte den Kopf. „Nein“, sagte sie harsch, „die einzige anständige Vorgangsweise für uns wäre eine allmähliche. Wir könnten Missionare schicken. Nach deren Vorgabe und Beispiel könnten wir damit beginnen, die Eingeborenen dazu zu bringen, ihren Brauch nach zwei oder drei Generationen allmählich hinter sich zu lassen… Und wir können uns ein solches Unterfangen nicht leisten. Noch lange Zeit nicht. Nicht bei so vielen anderen Welten in der Galaxis, die der wenigen Hilfe, die wir geben können, um so viel würdiger sind. Wenn wir nach Hause kommen, werde ich empfehlen, dass dieser Planet sich selbst überlassen wird.“

Evalyth betrachtete sie einen Moment lang, bevor sie fragte: „Ist das nicht teilweise wegen deiner eigenen Reaktion?“

„Ja“, gab Chena zu. „Ich kann meinen Abscheu nicht überwinden. Und wie du erwähnt hast, sollte ich professionell aufgeschlossen sein. Selbst wenn also die Behörde versuchen würde, Missionare zu rekrutieren, bezweifle ich, dass sie Erfolg haben würden.“ Sie zögerte. „Du selbst, Evalyth…“

Die Krakenerin erhob sich. „Meine Emotionen spielen keine Rolle“, sagte sie. „Meine Pflicht schon. Danke für deine Hilfe.“ Sie machte auf dem Absatz kehrt und ging mit militärischem Schritt aus der Hütte.

*     *     *

Die chemischen Barrieren bröckelten. Evalyth stand einen Moment lang vor dem kleinen Gebäude, das ihres und Donlis gewesen war, und fürchtete sich, einzutreten. Die Sonne stand niedrig, daher war der Gebäudekomplex von Schatten erfüllt. Ein schlangenhaftes Wesen mit ledrigen Flügeln zog still über ihr dahin. Von außerhalb der Umzäunung wehte das Geräusch von Schritten herein, fremde Stimmen, das Winseln einer hölzernen Flöte. Die Luft wurde kühl. Sie schauderte. Ihr Zuhause würde so leer sein.

Jemand näherte sich. Sie erkannte die Person mit einem flüchtigen Blick. Alsabeta Mondain von Nuevamerica. Ihrem gutgemeinten törichten Beileid zuzuhören würde schlimmer sein, als hineinzugehen. Evalyth machte die letzten drei Schritte und ließ die Tür hinter sich zugleiten.

Donli wird nicht wieder hier sein. In Ewigkeit nicht.

Aber es stellte sich heraus, dass die Hütte nicht leer von ihm war. Vielmehr war sie zu voll. Dieser Stuhl, wo er immer zu sitzen pflegte und aus jenem abgegriffenen Band mit Gedichten las, die sie nicht verstehen konnte und wegen denen sie ihn aufzog, dieser Tisch, über den hinweg er ihr zugeprostet und Küsse zugeworfen hatte, dieser Schrank, wo seine Kleider hingen, dieses abgewetzte Paar von Pantoffeln, dieses Bett – es schrie von ihm. Evalyth ging schnell in die Laborsektion und zog den Vorhang zu, der diese vom Wohnquartier trennte. Ringe rasselten die Stange entlang. Das Geräusch war monströs in dem Zwielicht.

Sie schloss die Augen und Fäuste und stand schwer atmend da. Ich werde nicht weich werden, beteuerte sie. Du hast immer gesagt, dass du mich für meine Stärke liebtest (neben anderen wünschenswerten Merkmalen, wie du mit deinem langsamen Grinsen hinzugefügt hast, aber ich werde mich daran noch nicht erinnern), und ich habe nicht vor, irgendetwas von dem loszulassen, das du geliebt hast.

Ich muss mich an die Arbeit machen, sagte sie zu Donlis Kind. Das Expeditionskommando wird ziemlich sicher nach Chenas Drängen handeln und alles nach Hause bringen. Wir haben nicht viele Tage, um deinen Vater zu rächen.

Ihre Augen öffneten sich schlagartig. Was tue ich da, dachte sie verblüfft, mit einem toten Mann und einem Embryo zu reden?

Sie schaltete die Fluorolampe an der Decke ein und ging zum Computer. Dieser war nicht anders gebaut als die anderen tragbaren Computer. Donli hatte ihn benutz. Aber sie konnte ihren Blick nicht von den einzigartigen Kratzern und Dellen auf diesem eckigen Gehäuse wenden, genauso wenig wie von seinem Mikroskop, seinen Chemoanalysatoren, seinem Chromosomentracer, seinen biologischen Proben… Sie setzte sich. Ein Drink wäre sehr willkommen gewesen, nur dass sie Klarheit benötigte. „Aktiviere dich!“ befahl sie.

Das On-Licht glühte gelb. Evalyth zupfte sich am Kinn und suchte nach Worten. „Die Aufgabe“, sagte sie schließlich, „ist, einen Tiefländer aufzuspüren, der mehrere Kilo Fleisch und Blut von einem aus dieser Gruppe verzehrt hat und danach im Dschungel verschwunden ist. Die Tötung fand vor etwa sechzig Stunden statt. Wie kann er gefunden werden?“

Leises Summen antwortete ihr. Sie stellte sich die Verbindungen vor: zum Maser in der Fähre, durch den Himmel hinauf zur nächsten Relaiseinheit im Orbit, zur nächsten, zur nächsten, um den aufgeblähten Bauch des Planeten, vorbei unter der Oger-Sonne und unmenschlichen Sternen, bis die Pulse das Mutterschiff erreichten; dann hinunter zu einem nicht lebenden Gehirn, das die Anfrage zur geeigneten Datenbank weiterleitete; dann zu den Scannern, deren Resonanzenergien von einem verzerrten Molekül zum anderen flogen und mehr Informationsbits identifizieren, als aufzuzählen sinnvoll war, von hunderten oder tausenden ganzer Welten gewonnene Daten; Daten, die durch den Ruin des Imperiums und die darauf folgenden dunklen Zeitalter bewahrt worden waren; Daten, die bis zu einer Alten Erde zurückreichten, die vielleicht nicht mehr existierte. Sie scheute vor dem Gedanken zurück und wünschte sich zurück auf das liebe strenge Kraken. Wir werden dorthin gehen, versprach sie Donlis Kind. Du wirst fern von diesen zu vielen Maschinen wohnen und so aufwachsen, wie es die Götter für dich wollten.

„Frage“, sagte die künstliche Stimme. „Welcher Herkunft war das Opfer dieses Angriffs?“

Evalyth musste ihre Lippen befeuchten, ehe sie antworten konnte: „Atheianisch. Er war Donli Sairn, dein Herr.“

„In diesem Fall könnte es die Möglichkeit geben, den gewünschten lokalen Einwohner aufzuspüren. Die Chancen werden jetzt berechnet. Möchtest du in der Zwischenzeit die Basis der Möglichkeit wissen?“

„J-ja.“

„Die einheimische atheianische Biochemie entwickelte sich in einer Weise, die ziemlich parallel zu jener der Erde ist“, sagte die Stimme, „und die frühen Kolonisten hatten keine Schwierigkeit, terrestrische Spezies einzuführen. Somit genossen sie eine freundliche Umwelt, wo die Bevölkerung bald zu einer ausreichenden Größe wuchs, um der Gefahr einer rassischen Veränderung durch Mutation und/oder Gendrift zu vermeiden. Zusätzlich tendierte kein Selektionsdruck dazu, eine Veränderung zu erzwingen. Daher ist der moderne atheianische Mensch wenig verschieden von seinen Vorfahren auf der Erde, sodass seine Physiologie und Biochemie im Detail bekannt ist.

Dies ist im Wesentlichen auf den meisten kolonisierten Planeten der Fall gewesen, für die Aufzeichnungen verfügbar sind. Wo unterschiedliche Rassen von Menschen entstanden sind, lag das im Allgemeinen daran, dass die ursprünglichen Siedler stark selektierte Gruppen waren. Zufälligkeiten und evolutionäre Anpassung an neue Bedingungen haben selten radikale Veränderungen des Biotyps hervorgebracht. Zum Beispiel ist die Robustheit des durchschnittlichen Krakeners eine Reaktion auf eine vergleichsweise hohe Schwerkraft; seine Größe hilft ihm, der Kälte zu widerstehen, sein heller Teint ist hilfreich unter einer Sonne, die arm an Ultraviolett ist. Aber seine Vorfahren waren Menschen, die bereits die natürlichen Ausstattungen für solch eine Welt hatten. Seine Abweichungen von der Norm sind nicht extrem. Sie schließen sein Leben auf erdähnlicheren Welten nicht aus, noch gemischte Nachkommen mit deren Bewohnern.

Gelegentlich jedoch sind größere Variationen aufgetreten. Sie scheinen an einer kleinen ursprünglichen Population zu liegen, oder an unterrestroiden Bedingungen, oder beidem. Die Population mag klein gewesen sein, weil der Planet nicht mehr ernähren konnte, oder klein geworden sein als Ergebnis feindlicher Aktionen, als das Imperium fiel. Im ersteren Fall hatten genetische Zufälle eine Chance, signifikant zu sein; im letzteren produzierte die Strahlung eine hohe Rate an Mutantengeburten unter den Überlebenden. Die neigen weniger dazu, in der groben Anatomie aufzutreten, als in subtilen endokrinen und enzymatischen Eigenschaften, die sich auf die Physiologie und Psychologie auswirken. Zu den wohlbekannten Fällen gehören die Reaktion der Gwydiona auf Nikotin und bestimmte Indole und der Bedarf der Ifrianer nach Spurenmengen von Blei. Manchmal sind die Bewohner zweier Planeten wegen ihrer Unterschiede tatsächlich miteinander unfruchtbar.

Während diese Welt bisher erst die oberflächlichste Untersuchung erhalten hat –“ Evalyth wurde aus einer Tagträumerei gerissen, in die der Vortrag sie geführt hatte, „- sind bestimmte Fakten klar. Wenige terrestrische Spezies sind gediehen; zweifellos wurden ursprünglich noch andere eingeführt, starben aber aus, nachdem die Technologie zu ihrer Bewahrung verloren war. Der Mensch war daher gezwungen gewesen, sich für den größeren Teil seiner Nahrung auf autochthones Leben zu stützen. Diesem Leben mangeln verschiedene Elemente der menschlichen Ernährung. Zum Beispiel scheint das einzige Vitamin C in eingewanderten Pflanzen vorzukommen; Saim hat beobachtet, dass die Menschen große Mengen von Gras und Blättern dieser Spezies verzehren und dass fluoroskopische Bilder darauf hindeuten, dass diese Praxis den Verdauungstrakt messbar verändert hat. Niemand wollte Haut, Blut, Auswurf oder ähnliche Proben zur Verfügung stellen, nicht einmal von Leichen.“

Fürchten sich vor Magie, dachte Evalyth düster, ja, sie sind auch dazu wieder zurückgekehrt.

„Aber eine intensive Analyse der üblichen Fleischtiere zeigt, dass diese mit drei essenziellen Aminosäuren unterversorgt sind, und zur menschlichen Anpassung daran müssen beträchtliche Veränderungen auf zellulärer und subzellulärer Ebene gehört haben. Die wahrscheinliche Art und das Ausmaß solcher Veränderungen sind berechenbar. Die Kalkulationen sind jetzt fertig.“

Als der Computer fortfuhr, packte Evalyth die Armlehnen ihres Stuhls und konnte nicht atmen.

„Während die Antwort Fehler mangels genauer Daten aufweisen kann, zeigt sie eine gute Erfolgswahrscheinlichkeit an. Faktisch ist atheianisches Fleisch hier fremd. Es kann verstoffwechselt werden, aber der Körper des lokalen Konsumenten wird bestimmte Verbindungen ausscheiden, und diese werden der Haut und dem Atem sowie dem Urin und den Fäkalien einen charakteristischen Geruch geben. Die Chance ist gut, dass er von der Neo-Freeholder-Technik nach sechzig oder siebzig Stunden auf Entfernungen von mehreren Kilometern aufgespürt werden kann. Aber nachdem die fraglichen Moleküle stetig abgebaut und zerstreut werden, wird schnelles Handeln empfohlen.“

Ich werde Donlis Mörder finden. Dunkelheit röhrte um Evalyth.

„Sollen die Organismen für Sie bestellt und mit dem geeigneten Suchprogramm ausgestattet werden?“ fragte die Stimme. „Sie können in geschätzten drei Stunden zur Verfügung stehen.“

„Ja“, stammelte sie. „Oh, bitte – Hast du irgendeinen anderen… anderen… Ratschlag?“

„Der Mann sollte nicht kurzerhand getötet, sondern zur Untersuchung hierher gebracht werden, und sei es aus keinem anderen Grund als dem, dass den wissenschaftlichen Zwecken der Expedition gedient werden möge.“

Da spricht eine Maschine, dachte Evalyth weinend. Sie ist dafür konstruiert, bei der Forschung zu helfen. Nichts weiter. Aber sie hat ihm gehört. Und ihre Antwort war so völlig Donli, dass sie ihre Tränen nicht länger zurückhalten konnte.

*     *     *

Der eine große Mond ging nahezu voll auf, kurz nach Sonnenuntergang. Er überstrahlte die meisten Sterne; der Dschungel unten war mit Silber gepflastert und mit Schwarz gesprenkelt; der Schneekegel des Mount Bums schwebte unwirklich am unsichtbaren Rand der Welt. Wind strich um Evalyth, wo sie auf ihrem Gravoschlitten kauerte; er war voll von feuchten, säuerlichen Gerüchen und fühlte sich kalt an, obwohl er das nicht war, und gluckste in ihrem Rücken. Irgendwo kreischte irgendetwas alle paar Minuten, und etwas anderes krächzte zur Antwort.

Sie schaute finster auf ihre Positionsanzeiger, die auf dem Kontrollpanel glühten. Fluch und Chaos, Moru musste in dieser Gegend sein! Er konnte in der zur Verfügung stehenden Zeit nicht zu Fuß aus dem Tal entkommen sein, und ihr Suchmuster hatte es praktisch abgedeckt. Wenn ihr die Insekten ausgingen, bevor sie ihn fand, musste sie dann annehmen, dass er tot war? Sie sollten doch in der Lage sein, seine Leiche dennoch zu finden, oder nicht? Sofern sie nicht tief begraben war… Hier. Sie brachte den Schlitten in die Schwebe, nahm die nächste Phiole aus der Halterung und stand auf, um sie zu öffnen.

Die Insekten kamen heraus, viele und winzig, wie Rauch im Mondlicht. Ein weiterer Fehlschlag?

Nein! Warte! Tanzten diese Stäubchen nicht wieder zusammen, zu einem Streifen, der unter dem Mond kaum sichtbar war, und verschwanden nach unten? Mit pochendem Herzen wandte sie sich dem Indikator zu. Dessen Neurodetektorantenne wackelte nicht ziellos, sondern zeigte gerade nach Westnordwest, Deklination zweiunddreißig Grad unter horizontal. Nur eine Konzentration der Insekten konnte sie zu diesem Verhalten bringen. Und nur die besondere Mischung von Molekülen, mit der die Insekten präsensibilisiert worden waren, in mehreren parts per million oder besser, würde sie dazu bringen, sich bei der Quelle zu sammeln.

„Ya-a-a-h!“ Sie konnte sich diesen einen Habichtschrei nicht verkneifen. Aber danach biss sie sich auf die Lippen – Blut rieselte unbemerkt über ihr Kinn hinab – und steuerte den Schlitten schweigend.

Die Entfernung betrug bloß ein paar Kilometer. Sie kam über einer Öffnung im Wald zu einem Halt. Tümpel algenschaumbedeckten Wassers glänzten in seiner wuchernden Vegetation. Die Bäume bildeten eine solide erscheinende Wand darum. Evalyth klappte ihre Nachtsichtbrille von ihrem Helm herunter vor ihre Augen. Ein Pultdach-Unterstand wurde sichtbar. Er war hastig aus Ranken und Ruten gewoben worden, an ein Paar der größten Bäume gedrängt, damit deren Äste ihn vor dem Himmel verbargen. Die Insekten flogen hinein.

Evalyth ließ ihren Schlitten bis auf einen Meter über dem Boden hinuntersinken und stand wieder auf. Eine Betäubungspistole glitt aus ihrem Holster in ihre rechte Hand. Ihre Linke ruhte auf dem Blaster.

Morus zwei Söhne tappten aus dem Unterstand hervor. Die Insekten wirbelten um sie herum, ein Nebel, der ihre Umrisse verwischte. Natürlich, erkannte Evalyth, die dennoch in einen höheren Hass geschockt wurde. Ich hätte wissen müssen, dass sie das tatsächliche Verzehren besorgten. Mehr als je zuvor ähnelten sie Gnomen – magere Gliedmaßen, große Köpfe, die Kugelbäuche der Unterernährung. Krakener-Jungen ihres Alters hätten das Doppelte ihrer Körpermasse und wären merklich auf dem Weg dazu, Männer zu werden. Diese nackten Körper gehörten zu Kindern, nur dass sie die Groteskheit des Greisenalters hatten.

Die Eltern folgten ihnen, ignoriert von den gebannten Insekten. Die Mutter heulte. Evalyth identifizierte ein paar Wörter. „Was ist los, was sind das für Dinger – oh Hilfe –“ Aber ihr Blick war auf Moru geheftet.

So wie er aus dem Verschlag humpelte und sich in dessen Eingang bückte, erinnerte er sie an einen riesigen Käfer, der aus einem Haufen Schlachtabfälle krabbelte. Aber sie würde diesen buschigen Kopf erkennen, selbst wenn ihr Hirn auseinanderfiele. Er trug eine Steinklinge, sicherlich diejenige, die Donli zerhackt hatte. Ich werde sie ihm wegnehmen, und die Hand mit ihr, dachte Evalyth weinend. Ich werde ihn am Leben halten, während ich ihn mit meinen eigenen Händen zerlege, und zwischendurch kann er zusehen, wie ich seine abstoßende Brut häute.

Der Schrei der Frau brach durch. Sie hatte das Metallding gesehen, und die Riesin, die auf dessen Plattform stand, ihr Kopf und ihre Augen schimmernd unter dem Mond.

„Ich bin dich holen gekommen, der du meinen Mann getötet hast“, sagte Evalyth.

Die Mutter schrie von neuem und warf sich vor die Jungen. Der Vater versuchte vor ihr herumzulaufen aber sein lahmer Fuß verdrehte sich, und er fiel in einem Tümpel. Als er sich aus dem Dreck kämpfte, schoss Evalyth die Frau nieder. Kein Geräusch war zu hören; sie klappte zusammen und lag reglos da. „Rennt!“ schrie Moru. Er versuchte auf den Schlitten zuzustürmen. Evalyth drehte einen Kontrollstab. Ihr Fahrzeug schoss in einem Kreis herum und schnitt den Jungen den Weg ab. Sie schoss sie von oben nieder, wo Moru sie nicht ganz erreichen konnte.

Er kniete neben dem nächsten nieder, nahm den Körper in seine Arme und schaute nach oben. Das Mondlicht floss erbarmungslos über ihn. „Was kannst du mir jetzt noch antun?“ rief er.

Sie betäubte auch ihn, landete, stieg aus und fesselte den Vieren schnell die Hände und Füße aneinander. Als sie sie an Bord lud, fand sie sie leichter als erwartet.

Der Schweiß war ihr ausgebrochen, bis ihr Coverall tropfend an ihrer Haut klebte. Sie begann zu zittern wie im Fieber. Ihre Ohren summten.

„Ich hätte euch vernichtet“, sagte sie. Ihre Stimme klang fern und unvertraut. Ein noch fernerer Teil wunderte sich, warum sie sich die Mühe machte, zu den Bewusstlosen zu sprechen, und noch dazu in ihrer eigenen Sprache. „Ich wünschte, ihr hättet nicht so gehandelt, wie ihr es tatet. Das erinnerte mich daran, was der Computer sagte, dass Donlis Freunde euch fürs Studium brauchten. Ihr habt eine zu gute Chance, nehme ich an. Nach euren Taten haben wir gemäß der Regeln der Allianz das Recht, euch zu Gefangenen zu machen, und wahrscheinlich wird keiner seiner Freunde sentimental wegen eurer Gefühle werden. Oh, sie werden nicht unmenschlich sein. Ein paar Zellproben, viele Tests, Anästhesie wo notwendig, nichts Schädliches, nichts als eine klinische Untersuchung, so gründlich, wie es die Einrichtungen erlauben. Zweifellos werdet ihr besser ernährt werden als irgendwann zuvor, und zweifellos werden die Sanis ein paar Pathologien finden, von denen sie euch heilen können. Am Ende, Moru, werden sie deine Frau und deine Kinder freilassen.“

Sie starrte in sein schreckliches Gesicht. „Ich bin erfreut“, sagte sie, „dass es für euch, die ihr nicht begreift, was vorgeht, eine schlimme Erfahrung sein wird. Und wenn sie fertig sind, Moru, werde ich darauf bestehen, dass ich wenigstens dich zurückbekomme. Sie können mir das nicht verweigern. Immerhin hat dein Stamm selbst dich ausgestoßen. Richtig? Meine Kollegen werden mich nicht mehr tun lassen, als dich zu töten, fürchte ich, aber darauf werde ich bestehen.“

Sie ließ die Maschine an und startete in Richtung Lokon, so schnell wie möglich, um anzukommen, solange sie sich noch in der Lage fühlte, mit soviel zufrieden zu sein.

Und den Tagen ohne ihn und den Tagen ohne ihn.

Die Nächte waren willkommen. Wenn sie sich nicht völlig zur Erschöpfung gearbeitet hatte, konnte sie eine Pille nehmen. Er kehrte selten in ihren Träumen zurück. Aber sie musste jeden Tag überstehen und würde ihn nicht in Drogen ertränken.

Zum Glück waren die Vorbereitungen für die Abreise mit recht viel Arbeit verbunden, wo die Expedition personell unterbesetzt war und es so kurzfristig geschah. Ausrüstung musste zerlegt, verpackt, zum Schiff hochgebracht und verstaut werden. Die New Dawn selbst musste startklar gemacht und zahlreiche Systeme wieder in Betrieb genommen und getestet werden. Ihre Militech-Ausbildung qualifizierte Evalyth für Zweitrollen als Mechanikerin, Beibootpilotin oder Verladeteamleiterin. Zusätzlich behielt sie die Verteidigungsroutinen im Gebäudekomplex bei.

Captain Jonafer erhob milde Einwände dagegen. „Warum die Mühe, Lieutenant? Die Einheimischen haben eine Heidenangst vor uns. Sie haben gehört, was Sie getan haben – und dieses Kommen und Gehen durch den Himmel, Roboter und schwere Maschinen in Aktion, Scheinwerfer nach Einbruch der Dunkelheit – ich habe Schwierigkeiten, sie dazu zu überreden, ihre Stadt nicht aufzugeben!“

„Lassen Sie sie“, schnappte sie. „Wen kümmert’s?“

„Wir sind nicht hierhergekommen, um sie zu ruinieren, Lieutenant.“

„Nein. Nach meinem Urteil jedoch, Captain, würden sie uns mit Freuden ruinieren, wenn wir ihnen die geringste Gelegenheit bieten würden. Stellen Sie sich vor, welche besonderen Vorteile Ihr Körper haben muss.“

Jonafer seufzte und gab nach. Aber als sie sich weigerte, Rogar zu empfangen, als sie das nächste Mal wieder auf dem Planeten war, befahl er ihr, ihn zu empfangen und höflich zu sein.

Der Klev betrat die Biolaborsektion – sie wollte ihn nicht in ihrem Wohnquartier haben – mit einem Geschenk, dass er in beiden Händen hielt, ein Schwert aus imperialem Metall. Sie zuckte die Achseln; zweifellos würde ein Museum erfreut sein, das Ding zu bekommen. „Leg‘ es auf den Boden“, sagte sie zu ihm.

Weil sie den einzigen Stuhl besetzte, stand er. Er sah in seiner Robe klein und alt aus. „Ich bin gekommen“, flüsterte er, „um zu sagen, wie sehr wir von Lokon uns freuen, dass die Himmelsfliegerin ihre Rache gewonnen hat.“

„Gewinnen wird“, korrigierte sie ihn.

Er konnte ihr nicht in die Augen schauen. Sie starrte verdrossen auf sein verblichenes Haar.

„Nachdem die Himmelsfliegerin mit… Leichtigkeit… jene finden konnte, die sie haben wollte… kennt sie die Wahrheit in den Herzen von uns aus Lokon, dass wir nie beabsichtigten, ihrem Volk zu schaden.“

Das schien keine Antwort zu erfordern.

Seine Finger verknoteten sich ineinander. „Warum verlasst ihr uns dann?“ fuhr er fort. „Am Anfang, als ihr kamt, als wir euch kennengelernt hatten und ihr unsere Sprache spracht, sagtet ihr, ihr würdet für viele Monde bleiben, und nach euch würden andere kommen, um zu lehren und Handel zu treiben. Unsere Herzen jubelten. Es waren nicht allein die Güter, die ihr uns vielleicht eines Tages kaufen lassen würdet, noch dass eure weisen Männer von Möglichkeiten sprachen, Hunger, Krankheit, Gefahr und Trauer zu beenden. Nein, unser Jubel und unsere Dankbarkeit galten am meisten den Wundern, die ihr eröffnet habt. Plötzlich war die Welt groß gemacht worden, die so eng gewesen war. Und jetzt geht ihr fort. Ich habe gefragt, als ich es wagte, und jene eurer Männer, die mit mir reden wollen, sagten, dass niemand zurückkehren wird. Wie haben wir euch beleidigt, und wie könnte das in Ordnung gebracht werden, Himmelsfliegerin?“

„Ihr könnt aufhören, eure Mitmenschen wie Tiere zu behandeln“, brachte Evalyth zwischen ihren Zähnen hervor.

„Ich habe gefolgert… einigermaßen… dass ihr von den Sternen sagt, es sei falsch, was am Heiligen Ort geschieht. Aber wir tun es nur einmal in unserem Leben, Himmelsfliegerin, und weil wir müssen!“

„Ihr habt keine Notwendigkeit.“

Rogar ließ sich vor ihr auf Hände und Knie nieder. „Vielleicht seid ihr Himmelsflieger so“, flehte er, „aber wir sind bloß Menschen. Wenn unsere Söhne nicht die Männlichkeit bekommen, werden sie niemals eigene Kinder zeugen, und der letzte von uns wird allein in einer Welt des Todes sterben, ohne jemanden, der seinen Schädel aufbricht und die Seele herauslässt –“ Er wagte einen kurzen Blick zu ihr hoch. Was er sah, ließ ihn wimmern und rückwärts in den Sonnenglast kriechen.

Später suchte Chena Damard Evalyth auf. Sie hatten einen Drik zusammen und redeten eine Weile um das Thema herum, bis die Anthropologin einwarf: „Du warst ziemlich hart zu dem Sachem, nicht wahr?“

„Woher weißt – Oh.“ Die Krakenerin erinnerte sich, dass die Unterredung aufgezeichnet worden war, wie es wann immer möglich für späteres Studium gemacht wurde. „Was hätte ich tun sollen, seinen menschenfressenden Mund küssen?“

„Nein.“ Chena verzog die Miene. „Ich schätze nicht.“

„Deine Unterschrift steht ganz oben auf der Liste, auf der offiziellen Empfehlung, dass wir diesen Planeten verlassen sollen.“

„Ja. Aber – jetzt weiß ich nicht. Ich war abgestoßen. Das bin ich. Jedoch – ich habe das medizinische Team beobachtet, das mit deinen Gefangenen arbeitet. Hast du sie beobachtet?“

„Nein.“

„Solltest du. Wie sie zurückschrecken und kreischen und die Hände nach einander ausstrecken, wenn sie im Labor festgeschnallt werden, und wie sie sich hinterher in ihrer Zelle aneinander klammern.“

„Sie erleiden keine Schmerzen oder Verstümmelungen, oder?“

„Natürlich nicht. Aber sie können es nicht glauben, wenn ihre Häscher sagen, dass sie das nicht tun werden. Man kann sie nicht unter Beruhigungsmittel setzen, während sie studiert werden, wie du weißt, wenn die Ergebnisse gültig sein sollen. Ihre Furcht vor dem absolut Unbekannten… Nun ja, Evalyth, ich musste damit aufhören, das zu beobachten. Ich konnte es nicht mehr ertragen.“ Chena starrte die andere lange an. „Du könntest es aber vielleicht.“

Evalyth schüttelte den Kopf. „Ich bin nicht schadenfroh. Ich werde den Mörder erschießen, weil meine Familienehre es verlangt. Die anderen können frei gehen, sogar die Jungen. Sogar trotzdem, was sie gegessen haben.“ Sie schenkte sich einen steifen Schluck ein und kippte ihn in einem Zug hinunter. Der Schnaps brannte auf dem Weg nach unten.

„Ich wünschte, du würdest das nicht tun“, sagte Chena. „Donli hätte das nicht gefallen. Er hatte ein Sprichwort, von dem er behauptete, dass es sehr alt sei – er war aus meiner Stadt, vergiss das nicht, und ich kannte ihn… ich habe ihn länger gekannt als du, meine Liebe. Ich habe zweimal oder dreimal gehört, wie er sagte: Vernichte ich nicht meine Feinde, wenn ich sie zu meinen Freunden mache?

„Denk‘ an ein giftiges Insekt“, antwortete Evalyth. „Man freundet sich nicht mit ihnen an. Man zertritt sie unter dem Absatz.“

„Aber ein Mensch tut, was er tut, wegen dem, was er ist, was seine Gesellschaft aus ihm gemacht hat.“ Chenas Stimme wurde eindringlich; sie lehnte sich vor, um die Hand von Evalyth zu ergreifen, die nicht darauf reagierte. „Was ist ein Mensch, eine Lebensspanne, gegen all jene, die um ihn herum leben, und alle, die vor ihm kamen? Der Kannibalismus wäre nicht überall auf dieser Insel zu finden, in jeder dieser ansonsten völlig verschiedenen Gruppierungen, wenn er nicht das am tiefsten verwurzelte kulturelle Gebot wäre, den diese Rasse hat.“

Evalyth überspielte einen aufsteigenden Zorn mit Grinsen. „Und was für eine Art von Rasse sind sie, dass sie es erwarben? Und was ist damit, mir das Privileg zuzugestehen, nach meinen eigenen kulturellen Geboten vorzugehen? Ich werde nach Hause gehen, um Donlis Kind fern von eurer feigen Zivilisation großzuziehen. Es wird nicht entehrt aufwachsen, weil seine Mutter zu schwach war, Gerechtigkeit für seinen Vater zu üben. Wenn du mich jetzt entschuldigen würdest, ich muss früh aufstehen und eine weitere Bootsladung zum Schiff transportieren und an Bord bringen.“

Diese Aufgabe dauerte eine Weile. Evalyth kam gegen Sonnenuntergang des nächsten Tages zurück. Sie fühlte sich ein bisschen müder als üblich, ein bisschen friedlicher.

Die rohe Schärfe dessen, was geschehen war, heilte zu. Der Gedanke kam ihr in den Sinn, abstrakt, aber nicht schockierend, nicht treulos: Ich bin jung. Eines Jahres wird ein anderer Mann kommen. Ich werde dich um nichts weniger lieben, Liebling.

*     *     *

Ihre Stiefel scharrten über Staub. Der Gebäudekomplex war bereits halb leer, eine entsprechende Zahl des Personals im Schiff einquartiert. Der Abend kam zur Ruhe unter einem gelb werdenden Himmel. Nur ein paar Expeditionsmitglieder rührten sich zwischen den Maschinen und verbliebenen Hütten. Lokon lag so schweigend da, wie es in letzter Zeit geworden war. Das Poltern ihrer Schritte auf den Stufen zu Jonafers Büro war ihr willkommen.

Er saß da und wartete auf sie, groß und reglos hinter seinem Schreibtisch. „Auftrag ohne Zwischenfall ausgeführt“, meldete sie.

„Setzen Sie sich“, sagte er.

Sie gehorchte. Das Schweigen wuchs. Endlich sagte er mit steifem Gesicht: „Das klinische Team ist mit den Gefangenen fertig.“

Irgendwie war es ein Schock. Evalyth rang um Worte. „Ist das nicht zu früh? Ich meine, nun ja, wir haben nicht viel Ausrüstung, und nur ein paar Männer, die die fortschrittlichen Sachen benutzen können, und dann ohne Donli als Experten für Erdbiologie – Würde nicht eine gute Studie, bis hinunter zur Ebene der Chromosomen, wenn nicht weiter – etwas, das die physischen Anthropologen gebrauchen könnten – würde das nicht länger dauern?“

„Richtig“, sagte Jonafer. „Nichts von größerer Bedeutung wurde gefunden. Vielleicht hätte man etwas gefunden, wenn Udens Team irgendeine Ahnung hätte, wonach es suchen soll. Angesichts dessen hätten sie Hypothesen aufstellen und sie im Kontext des Gesamtorganismus testen und zu irgendeinem Verständnis ihrer Subjekte als funktionierende Wesen gelangen können. Sie haben Recht, Donli Sairn hatte die Art von professioneller Intuition, die sie hätte anleiten können. Ohne das, und ohne bestimmte Hinweise, und ohne Kooperation seitens dieser unwissenden, verängstigten Wilden, mussten sie beinahe zufällig herumtasten und sondieren. Sie haben aber doch ein paar Besonderheiten der Verdauung festgestellt – nichts, das man nicht hätte auf Basis der umgebenden Ökologie vorhersagen können.“

„Warum haben sie dann aufgehört? Wir werden frühestens in einer weiteren Woche abreisen.“

„Sie taten das auf meinen Befehl, nachdem Uden mir gezeigt hatte, was vorging, und sagte, dass er aufhören würde, ungeachtet dessen, was ich wollte.“

„Was -? Oh.“ In bitterem Hohn hob Evalyn ihren Kopf. „Sie meinen die psychologische Folter.“

„Ja. Ich sah diese dürre Frau auf einem Tisch fixiert. Ihr Kopf, ihr Körper waren mit Leitungen zu den Messgeräten bedeckt, die um sie herum gruppiert waren und klickten und summten und flackerten. Sie sah mich nicht; ihre Augen waren blind vor Angst. Ich nehme an, sie stellte sich vor, dass ihre Seele herausgepumpt würde. Oder vielleicht war der Prozess schlimmer, weil er etwas war, dem sie keinen Namen geben konnte. Ich habe ihre Jungs in einer Zelle gesehen, wo sie sich an den Händen hielten. Nichts für sie mehr da, an dem sie sich festhalten könnten, in ihrem gesamten Universum. Sie sind erst in ihrer Pubertät; was wird das mit ihrer psychosexuellen Entwicklung machen? Ich habe ihren Vater unter Drogen gesetzt neben ihnen liegen gesehen, nachdem er versucht hatte, sich direkt durch die Wand zu rammen. Uden und seine Helfer erzählten mir, wie sie sich mit ihnen anzufreunden versucht hatten und gescheitert waren. Denn natürlich wissen die Gefangenen, dass sie in der Gewalt jener sind, die einen Hass gegen sie haben, der über das Grab hinausgeht.“

Jonafer hielt inne. „Es gibt anständige Grenzen für alles, Lieutenant“, schloss er, „einschließlich Wissenschaft und Bestrafung. Besonders wenn immerhin die Chance, irgendetwas anderes Ungewöhnliches zu entdecken, gering ist. Ich habe befohlen, dass die Untersuchung eingestellt wird. Die Jungen und ihre Mutter werden morgen in ihre Heimatgegend geflogen und freigelassen werden.“

„Warum nicht heute?“ fragte Evalyth und sah seine Antwort vorher.

„Ich hoffte“, sagte Jonafer, „dass Sie einwilligen würden, den Mann mit ihnen gehen zu lassen.“

„Nein.“

„Im Namen Gottes…“

„Ihres Gottes.“ Evalyth schaute von ihm weg. „Ich werde es nicht genießen, Captain. Ich beginne mir zu wünschen, dass ich das nicht tun müsste. Aber es ist nicht so, als sei Donli in einem ehrlichen Krieg oder einer Fehde getötet worden oder – Er wurde geschlachtet wie ein Schwein. Das ist das Böse im Kannibalismus: er macht einen Menschen zu nichts als einem weiteren Fleischtier. Ich werde ihn nicht zurückbringen, aber ich werde die Dinge irgendwie ausgleichen, indem ich den Kannibalen zu nichts als einem gefährlichen Tier mache, das erschossen werden muss.“

„Ich verstehe.“ Jonafer starrte lange zum Fenster hinaus. Im Licht des Sonnenuntergangs wurde sein Gesicht zu einer Maske aus Messing. „Nun“, sagte er endlich kalt, „gemäß der Charta der Allianz und der Artikel dieser Expedition lassen Sie mir keine Wahl. Aber wir werden keine makabren Zeremonien haben, und Sie werden nicht delegieren, was Sie getan haben wollen. Der Gefangene wird nach Einbruch der Dunkelheit privat zu Ihrem Quartier gebracht werden. Sie werden ihn sofort erledigen und bei der Einäscherung der Überreste helfen.“

Evalyths Handflächen wurden feucht. Ich habe noch nie zuvor einen hilflosen Mann getötet!

Aber er hat es getan, kam die Antwort. „Verstanden, Captain“, sagte sie.

„Sehr gut, Lieutenant. Sie können hinaufgehen und sich der Messe zum Abendessen anschließen, wenn Sie möchten. Keine Ankündigungen zu irgendjemandem. Die Sache wird angesetzt für –“ Jonafer warf einen Blick auf seine Armbanduhr, die auf die lokale Rotation eingestellt war „- 2600 Uhr.“

Evalyth schluckte einen trockenen Klumpen hinunter. „Ist das nicht ziemlich spät?“

„Aus Absicht“, sagte er ihr. „Ich möchte, dass das Lager schläft.“ Sein Blick traf auf ihren. „Und ich möchte, dass Sie Zeit haben, es sich noch einmal zu überlegen.“

„Nein!“ Sie sprang auf und ging zur Tür.

Seine Stimme folgte ihr. „Donli hätte Sie darum gebeten.“

*     *     *

Die Nacht kam herein und füllte den Raum. Evalyth stand nicht auf, um das Licht einzuschalten. Es war, als wollte dieser Stuhl, der Donlis Lieblingsstuhl gewesen war, sie nicht loslassen.

Schließlich erinnerte sie sich an die Psychodrogen. Sie hatte noch ein paar Tabletten übrig. Eine davon würde es leicht machen, die Hinrichtung durchzuführen. Zweifellos würde Jonafer Anweisung erteilen, dass Moru ein Beruhigungsmittel bekam – jetzt endlich -, bevor sie ihn hierher brachten. Warum also sollte sie sich nicht selbst Ruhe geben?

Es wäre nicht richtig.

Warum nicht?

Ich weiß es nicht. Ich verstehe nichts mehr.

Wer versteht noch etwas? Moru allein. Er weiß, warum er einen Mann ermordete und schlachtete, der ihm vertraute. Evalyth ertappte sich dabei, wie sie müde in die Dunkelheit lächelte. Er hat den Aberglauben als seine sichere Anleitung. Er hat tatsächlich gesehen, wie seine Kinder die ersten Anzeichen der Reife zeigen. Das sollte ihn ein bisschen trösten.

Seltsam, dass der durch Drüsen bewirkte Aufruhr der Pubertät unter furchterregendem Stress begonnen haben sollte. Man hätte stattdessen eine Verzögerung erwartet. Sicher, die Gefangenen hatten zur Abwechslung eine ausgewogene Ernährung erhalten, und die Medizin hatte wahrscheinlich verschiedene chronische niederschwellige Infektionen eliminiert. Trotzdem war die Tatsache seltsam. Außerdem würden normale Kinder unter normalen Umständen nicht die unmissverständlichen äußeren Anzeichen in solch kurzer Zeit entwickeln. Donli hätte über der Sache gerätselt. Sie konnte ihn beinahe sehen, wie er die Stirn runzelte, sich die Stirn rieb, einseitig grinste vor Vergnügen über ein Problem.

„Ich würde mich gern selbst daran versuchen“, hörte sie ihn zu Uden über einem Bier und etwas zu rauchen sagen. „Könnte vielleicht eine Perspektive bringen.“

„Wie?“ hätte der Mediziner geantwortet. „Du bist ein allgemeiner Biologe. Keine Kritik an dir, aber detaillierte menschliche Physiologie liegt außerhalb deines Faches.“

„Äähmm… ja und nein. Meine Hauptaufgabe ist das Studium von Spezies irdischen Ursprungs, und wie sie sich an neue Planeten angepasst haben. Durch einen bemerkenswerten Zufall gehört der Mensch dazu.“

Aber Donli war nicht mehr da, und niemand sonst war kompetent dafür, seine Arbeit zu machen – irgendein Teil von ihm zu sein, aber sie floh vor diesem Gedanken und vor dem Gedanken daran, was sie bald tun musste. Sie klammerte sich gedanklich an die Erkenntnis, dass einer von Udens Team versucht hatte, Donlis Wissen anzuwenden. Wie Jonafer angemerkt hatte, hätte es gut sein können, dass ein lebender Donli eine Idee vorgeschlagen hätte, unorthodox und einsichtsvoll, die zur Entdeckung dessen geführt hätte, was auch immer es zu entdecken gab, falls es etwas gab. Uden und seine Assistenten waren Routiniers. Sie hatten nicht einmal daran gedacht, Donlis Computer seine Datenbanken nach möglicherweise relevanten Informationen durchstöbern zu lassen. Warum sollten sie, wenn sie ihr Problem als ein strikt medizinisches sahen? Und sicher, sie waren nicht grausam. Das Leid, das sie zufügten, hatte sie dazu gebracht, alles zu vermeiden, was zu Ideen führen könnte, die weitere Forschungen verlangen würden. Donli wäre von Anfang an ganz anders an die Sache herangegangen.

Plötzlich verdichtete sich die düstere Stimmung. Evalyth rang nach Atem. Zu heiß und still hier; ein zu langes Warten; sie musste etwas tun, oder ihr Wille würde sie verlassen, und sie würde unfähig sein, den Abzug zu drücken.

Sie rappelte sich auf und stolperte ins Labor. Die Fluorolampe blendete sie einen Moment lang, als sie sie einschaltete. Sie ging zu seinem Computer und sagte: „Aktiviere dich!“

Nichts antwortete außer dem Indikatorlicht. Die Fenster waren völlig schwarz. Wolken sperrten draußen Mond und Sterne aus.

„Was –“ Der Laut war ein seltsames Krächzen. Aber das brachte einen befreienden Ärger: Reiß dich zusammen, du plärrende Idiotin, oder du bist nicht geeignet, dem Kind, das du trägst, eine Mutter zu sein. Sie konnte dann ihre Frage stellen. „Welche Erklärungen im Sinne der Biologie können entwickelt werden für das Verhalten der Menschen auf diesem Planeten?“

„Angelegenheiten dieser Natur werden vermutlich am besten erklärt in Begriffen der Psychologie und Kulturanthropologie“, sagte die Stimme.

„Mmm… vielleicht“, sagte Evalyth. „Und vielleicht nicht.“ Sie ordnete ein paar Gedanken und stellte sie fest inmitten der anderen auf, die in ihrem Kopf lärmten.

„Die Bewohner könnten irgendwie degeneriert sein, nicht wirklich menschlich.“ Ich will, dass das auf Moru zutrifft. „Frage jede Tatsache ab die über sie aufgezeichnet ist, einschließlich der detaillierten klinischen Beobachtungen, die in den letzten paar Tagen an vier von ihnen durchgeführt wurden. Vergleiche mit grundlegenden terrestrischen Daten. Gib mir jede Hypothese, die vernünftig aussieht.“ Sie zögerte. „Korrektur. Ich meine mögliche Hypothesen – alles, was nicht rundweg etablierten Tatsachen widerspricht. Wir haben die vernünftigen Ideen bereits aufgebraucht.“

Die Maschine summte. Evalyth schloss die Augen und klammerte sich an die Tischkante. Donli, bitte hilf mir.

Am anderen Ende der Ewigkeit kam die Stimme zu ihr:

„Das einzige Verhaltenselement, das nicht leicht durch Postulate betreffend die Umwelt und zufällige historische Entwicklungen erklärbar zu sein scheint, ist das kannibalistische Pubertätsritual. Dem anthropologischen Computer zufolge könnte es leicht sein, dass dieses seinen Ursprung als eine Form von Menschenopfer hatte. Aber dieser Computer erwähnt bestimmte Unlogiken in der Idee, wie folgt:

Auf der Alten Erde waren Opferreligionen normalerweise mit landwirtschaftlichen Gesellschaften verbunden, die entscheidender als Jäger von fortdauernder Fruchtbarkeit und gutem Wetter abhängig waren. Selbst für sie erwies sich das Opfern von Menschen auf lange Sicht als nachteilig, wie das Beispiel der Azteken am deutlichsten zeigt. Lokon hat die Praxis in gewissem Maß rationalisiert und zu einem Teil des Sklavereisystems gemacht und somit ihre Auswirkung auf die Allgemeinheit minimiert. Aber für die Tiefländer ist sie ein mächtiges Übel, eine Quelle immerwährender Gefahr, eine Umlenkung von Mühen und Ressourcen, die dringend für das Überleben gebraucht werden. Es ist nicht plausibel, dass der Brauch, wenn er jemals von Lokon imitiert worden wäre, bei jedem einzelnen dieser Stämme fortbestehen sollte. Trotzdem tut er das. Daher muss er irgendeinen Wert haben, und das Problem ist, herauszufinden, welchen.

Die Methode der Beschaffung von Opfern variiert stark, aber der Bedarf scheint immer derselbe zu sein. Laut den Lokonesen ist der Körper eines erwachsenen Mannes notwendig und ausreichend für die Reifung von vier Jungen. Der Mörder von Donli Sairn war nicht in der Lage, den ganzen Leichnam fortzutragen. Was er davon mitnahm, ist vielsagend.

Daher könnte ein Dipteroid-Phänomen bei einem Mann auf diesem Planeten aufgetreten sein. So etwas ist unter höheren Tieren anderswo unbekannt, aber es ist vorstellbar. Eine Modifikation des Y-Chromosoms würde es bewirken. Der Test für diese Modifikation, und somit der Test der Hypothese, ist leicht durchführbar.“

Die Stimme stoppte. Evalyth hörte das Blut in ihren Adern fließen. „Wovon redest du?“

„Das Phänomen ist unter niedrigeren Tieren auf mehreren Welten zu finden“, sagte der Computer ihr. „Es ist ungewöhnlich und daher nicht weithin bekannt. Der Name leitet sich von den Diptera ab, einer Art von Dungfliegen auf der Alten Erde.“

Ein Blitz flackerte. „Dungfliegen – gut, ja!“

Die Maschine fuhr mit ihrer Erläuterung fort.

*     *     *

Jonafer kam mit Moru mit. Die Hände des Wilden waren hinter seinem Rücken gefesselt, und der Raumfahrer ragte enorm über ihm auf. Trotzdem und trotz der Prellungen und Blutergüsse, die er sich selbst zugefügt hatte, humpelte er stetig dahin. Die Wolken rissen auf, und der Mond schien eisweiß. Wo Evalyth wartete, vor ihrer Tür, sah sie die Gebäude an die oben in Zacken endende Umzäunung reichen, und ein Kran stand darüber wie ein Galgen. Die Luft wurde kalt – der Planet rotierte auf einen Herbst zu -, und ein leichter Wind war aufgekommen und winselte hinter den Staubteufeln, die über die Erde wirbelten. Jonafers Schritte klangen laut.

Er bemerkte sie und hielt an. Moru tat dasselbe. „Was haben sie erfahren?“ fragte sie.

Der Captain nickte. „Uden hat sich gleich an die Arbeit gemacht, als Sie anriefen“, sagte er. „Der Test ist komplizierter, als Ihr Computer meinte – aber andererseits bezog er sich auf Donlis Art von Qualifikation, nicht die von Uden. Er hätte ohne Hilfe nie daran gedacht. Ja, die Idee stimmt.“

„Wie?“

Moru stand wartend da, während das Gespräch in der Sprache, die er nicht verstand,um ihn herum hin und her ging.

„Ich bin kein Mediziner.“ Jonafer hielt seine Tonart völlig ausdruckslos. „Aber nach dem, was Uden mir erzählte, bedeutet der Chromosomendefekt, dass die männlichen Keimdrüsen hier nicht spontan reifen können. Sie brauchen eine Extrazufuhr von Hormonen – er erwähnte Testosteron und Androsteron, ich vergesse, was sonst noch -, um die Serie von Veränderungen auszulösen, die die Pubertät herbeiführen. Ohne das bekommt man Eunuchismus. Uden denkt, dass die überlebende Population winzig war, nachdem die Kolonie ausgebombt worden war, und so arm, dass sie für das bloße Überleben auf Kannibalismus zurückgriff, die ersten ein, zwei Generationen. Unter diesen Umständen wurde eine Mutation, die sich andernfalls selbst eliminiert hätte, stabilisiert und verbreitete sich auf alle Nachkommen.“

Evalyth nickte. „Ich verstehe.“

„Sie verstehen, was das bedeutet, nehme ich an“, sagte Jonafer. „Es wird kein Problem sein, der Praxis ein Ende zu machen. Wir werden ihnen einfach sagen, dass wir eine neue und bessere Heilige Nahrung haben, und es mit ein paar Pillen beweisen. Fleischtiere terrestrischer Art können später wieder eingeführt werden und liefern, was notwendig ist. Am Ende können unsere Genetiker zweifellos dieses fehlerhafte Y-Chromosom reparieren.“

Er konnte sich nicht länger beherrschen. Sein Mund öffnete sich, ein Spalt quer über sein halb sichtbares Gesicht, und er sagte rauh: „Ich sollte Sie dafür loben, dass Sie ein ganzes Volk gerettet haben. Ich kann es nicht. Bringen Sie Ihre Sache doch hinter sich.“

Evalyth schritt nach vorn, um sich vor Moru zu stellen. Er zitterte, sah ihr aber in die Augen. Erstaunt sagte sie: „Sie haben ihn nicht unter Drogen gesetzt.“

„Nein“, sagte Jonafer. „Ich würde Ihnen nicht helfen.“ Er spuckte aus.

„Nun, ich bin froh darüber.“ Sie wandte sich an Moru in dessen eigener Sprache: „Du hast meinen Mann getötet. Ist es richtig, dass ich dich töten sollte?“

„Es ist richtig“, antwortete er, beinahe genauso ruhig wie sie. „Ich danke dir dafür, dass meine Frau und meine Söhne freigelassen werden sollen.“ Er schwieg eine Sekunde lang oder zwei. „Ich habe gehört, dass euer Volk Nahrung jahrelang aufbewahren kann, ohne dass sie verrottet. Ich wäre froh, wenn du meinen Körper bewahren würdest, um ihn deinen Söhnen zu geben.“

„Meine werden ihn nicht brauchen“, sagte Evalyth. „Genauso wenig die Söhne deiner Söhne.“

Ängstlichkeit färbte den Ton seiner Worte: „Weißt du, warum ich deinen Mann getötet habe? Er war freundlich zu mir, und wie ein Gott. Aber ich bin lahm. Ich sah keine andere Möglichkeit, um zu bekommen, was meine Söhne haben mussten; und sie mussten es bald haben, oder es wäre zu spät gewesen, und sie könnten niemals zu Männern werden.“

„Er lehrte mich“, sagte Evalyth, „wieviel es ist, ein Mann zu sein.“

Sie wandte sich zu Jonafer um, der angespannt und verdutzt dastand. „Ich habe meine Rache gehabt“, sagte sie in Donlis Sprache.

„Was?“ Seine Frage war ein reflexhaftes Geräusch.

„Nachdem ich von dem Dipteroid-Phänomen erfahren hatte“, sagte sie. „Ich hätte nur zu schweigen brauchen. Moru, seine Kinder, seine gesamte Rasse würden weiterhin jahrhundertelang Beute sein, vielleicht für immer. Ich saß eine halbe Stunde lang da, glaube ich, und hatte meine Rache.“

„Und dann?“ fragte Jonafer.

„Ich war befriedigt und konnte beginnen, an Gerechtigkeit zu denken“, sagte Evalyth.

Sie zog ein Messer. Moru straffte seinen Rücken. Sie trat hinter ihn und schnitt seine Fesseln durch. „Geh nach Hause“, sagte sie. „Erinnere dich seiner.“

*     *     *

Hier ist noch einmal der Link zur Online-Veröffentlichung, nach der diese Übersetzung erfolgte:

Read The Sharing of Flesh online free by Poul Anderson (readsonlinefree.com)

In der 228-seitigen PDF der Anthologie Anderson, Poul – The Dark Between the Stars ist „The Sharing of Flesh“ als erste Geschichte enthalten; diese habe ich zum Vergleich herangezogen, auch hinsichtlich der kursiven Textstellen und kleinerer Abweichungen im Text.

Siehe auch The Sharing of Flesh – Wikipedia.

Ein Gedanke zu „Poul Anderson: Das Teilen von Fleisch“

  1. Der Schluss dieser Geschichte hat mich an die finale Konfrontation zwischen Rick Deckard und dem Replikanten Roy Batty in Ridley Scotts originalem „Blade Runner“ erinnert:

    Für diejenigen, die diesen Film zu wenig kennen (oder in Erinnerung haben), um Roy Battys Situation und seine letzte Entscheidung voll würdigen zu können, poste ich hier die 13 Minuten lange Empfehlung von Critical Drinker (seine Bezeichnung „timeless and dreamlike“ trifft auch auf John Boormans Film „Excalibur“ zu; siehe diesen Kommentar von mir):

    „The Sharing of Flesh“ zupft sehr an meinen „heartstrings“, den hellen wie den dunklen, weil mich das Thema „Rache“ sehr beschäftigt, im Zusammenhang mit der Frage, was ich tun würde, wenn eine Person, an der mir so viel liegt wie Evalyth Sairn an ihrem Mann Donli, durch schuldhaftes Verhalten anderer ums Leben käme, womöglich auf ähnlich schlimme Weise.

    Ich will hier gar nicht ausbreiten, an welche Arten von Leuten ich da denke, und was für brutale Hass- und Rachefantasien mir kommen, wenn ich mir eine solche Situation vorstelle. Andererseits schrecke ich wieder vor dem Gedanken zurück, wie ich das mit etwas Abstand in der Zukunft sehen würde, und dass meine Trauer um die gerächte Person dann immer mit der Erinnerung an den Racheakt befleckt wäre.

    Um dieses Thema geht es unter anderem auch in meinem SF-Roman „Über die Hügel und zu den Sternen“, in dem es einen der fünf Charaktere betrifft, die verschiedene Seiten von mir repräsentieren.

    P.S.: Das uralte Zitat „Do I not destroy my enemies when I make them my friends?“, von dem Chena Damard in „The Sharing of Flesh“ sagt, sie hätte es mehrmals von Donli Sairn gehört, stammt von Abraham Lincoln. Die heutige US-Machtstruktur hat sich offenbar eine Umkehrung davon zu eigen gemacht:

    „Let’s make enemies by destroying our friends.“

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