Poul Anderson: Das Teilen von Fleisch

Vorbemerkung des Übersetzers: Am 1. Februar 2024 hat James Wallace Harris auf seinem Blog Classics of Science Fiction einen Beitrag veröffentlicht, der mich auf eine mir bisher unbekannte Novelle von Poul Anderson aufmerksam gemacht hat. Diese Geschichte habe ich anschließend online gelesen (Read The Sharing of Flesh online free by Poul Anderson (readsonlinefree.com)) und übersetzt (siehe weiter unten); ich habe keinen Hinweis darauf gefunden, dass sie jemals auf Deutsch erschienen wäre.

Hier folgt aber zunächst als Einführung der von mir ebenfalls übersetzte Beitrag von James Wallace Harris (ohne die Illustrationen aus Galaxy, die ich stattdessen in die Übersetzung der Geschichte eingefügt habe):

„The Sharing of Flesh” von Poul Anderson

„The Sharing of Flesh“ von Poul Anderson erschien erstmals in der Ausgabe Dezember 1968 des Galaxy Magazine. Es gewann 1969 einen Hugo Award für die beste Novelle und wurde auch für einen Nebula Award nominiert. Sobald ich die Geschichte in The Hugo Winners Volumes I and II, herausgegeben von Isaac Asimov, zu lesen begonnen hatte, wusste ich, dass ich sie schon zuvor gelesen hatte. Das Problem ist, dass ich mich nicht erinnern kann, wann und wo ich sie zuvor gelesen hatte, und das ärgert mich. Ich erinnere mich schon, dass ich diese Ausgabe von Galaxy damals 1968 bekommen hatte, aber wenn ich sie nur damals gelesen hätte, wäre sie mir nicht so frisch in Erinnerung geblieben. Bei dieser Lesung fühlte es sich so an, als müsste ich sie erst Wochen zuvor gelesen haben. Jeder Teil der Geschichte kam mir, als ich sie las, wieder in Erinnerung.

„The Sharing of Flesh“ handelt von Menschen, die einen Planeten entdecken, der schon zuvor von Menschen kolonisiert, aber vergessen worden war. Dies ist die dritte Geschichte, die ich in den letzten paar Wochen gelesen habe und die dieses Thema verwendete. Die anderen waren Andersons eigenes „The Longest Voyage“ und Nicola Griffiths „Ammonite“. „The Sharing of Flesh“ ist eine Mordgeschichte mit einem soziologischen/biologischen Drall. Es ist die Art von Geschichte, die ich nicht „spoilen“ will, indem ich sie zusammenfasse. Ich würde auf Archive.org verlinken, damit ihr sie online lesen könnt, aber aus dieser Ausgabe von Galaxy ist die Geschichte entfernt worden, was bedeutet, dass die Rechteinhaber von Andersons Nachlass das Herausnehmen verlangt haben. Sie ist verfügbar in Call Me Joe: Volume One of the Short Fiction of Poul Anderson von NESFA Press. (Ich habe sie aber später online gefunden.)

Ich habe ISFDB.org überprüft, um zu sehen, wo „The Sharing of Flesh” nachgedruckt worden ist, und ich besitze keine dieser Anthologien oder Kollektionen außer The Hugo Winners Volume I and II. Ich nehme an, dass ich „The Sharing of Flesh” dort gelesen habe, aber ich denke nicht.

Ich weiß, dass ihr wahrscheinlich denkt, ich sei übermäßig obsessiv bezüglich des Gedächtnisses, aber mich zu erinnern, wann, wo und wie ich eine Geschichte gelesen habe, ist aus zwei Gründen wichtig. Erstens werde ich alt, und ich verliere langsam mein Erinnerungsvermögen. An der Erinnerung zu arbeiten ist eine gute Übung für meinen Geist. Aber zweitens, und wichtiger, die Denkwürdigkeit einer Geschichte ist ein Maß ihrer Qualität. Wenn Worte sich in euren Geist einbrennen und jahrelang dort bleiben, dann gibt es dafür einen guten Grund.

Trotz all der Millionen von veröffentlichten Kurzgeschichten, und der tausenden, die ich gelesen habe, zählen die erinnerungswürdigen nur ein paar hundert, und diejenigen, die es wert sind, ein Leben lang geschätzt zu werden, summieren sich auf eine zweistellige Zahl.

„The Sharing of Flesh“ ist erinnerungswürdig, weil es von etwas Groteskem und Schrecklichem handelt und es bei seiner Auflösung doch um Vergebung geht. Die Geschichte handelt von der Überwindung von Erziehung und Kultur. Sie ist unglaublich positiv. Und doch weiß ich nicht, ob ich „The Sharing of Flesh“ in die Kategorie der Allzeit-Klassiker einordnen würde. Ich muss sie vielleicht ein paar weitere Male lesen, ehe ich mich entscheide. Dennoch denke ich wegen ihr, dass ich mehr von Poul Anderson lesen sollte.

Selbst die Illustrationen aus Galaxy sind mir so vertraut. Ich muss mich fragen, ob ich es damals 1968 gelesen habe. Falls ja, so denke ich nicht, dass ich mich an dieses Mal erinnere. Ich wünschte, ich hätte ein Tagebuch ab der Zeit geführt, als ich erstmals zu lesen begann. Ich habe „The Sharing of Flesh“ wahrscheinlich vor Kurzem gelesen, weil irgendein Blogger es erwähnte. Falls ihr euch erinnert, lasst es mich wissen.

Das ist eine andere Sache, an die ich mich gern erinnern würde. Ich würde mich gern an andere Leute anhand der Geschichten erinnern, die ich liebe. Ich wünschte, ich hätte mich um Erinnerungen zu sorgen begonnen, als ich ein Kind war. Wer hätte gewusst, dass sie mir jetzt so wichtig sein würden?

Ich beginne zu begreifen, dass Geschichten, die ich liebe, wie meine Gene sind; sie definieren, wer ich bin.

James Wallace Harris, 2/1/24

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DAS TEILEN VON FLEISCH

Poul Anderson

Moru verstand, was es mit Schusswaffen auf sich hatte. Zumindest hatten die hochgewachsenen Fremden ihren Führern demonstriert, was die Dinger, die jeder von ihnen an seiner Hüfte trug, mit einem Blitz und einer Stichflamme tun konnten. Aber er begriff nicht, dass die kleinen Gegenstände, die sie oft in ihren Händen herumtrugen, während sie in ihrer eigenen Sprache redeten, audiovisuelle Sender waren. Wahrscheinlich hielt er sie für Fetische.

Als er Donli Sairn tötete, tat er es daher in voller Sicht von Donlis Ehefrau.

Das war Zufall. Von vereinbarten Zeiten am Morgen und Abend des achtundzwanzigstündigen Tages des Planeten abgesehen sendete der Biologe wie seine Kameraden nur an seinen Computer. Aber weil sie noch nicht lange verheiratet waren und heillos glücklich waren, empfing Evalyth seine Sendungen, wann immer sie von ihren eigenen Pflichten wegkommen konnte.

Der Zufall, dass sie in diesem einen Moment auf Empfang war, war nicht großartig. Es gab wenig, das sie tun konnte. Als Militech der Expedition – nachdem sie von einem halb barbarischen Teil von Kraken stammte, wo die Geschlechter gleiche Gelegenheiten hatten, für primitive Umwelten geeignete Kampfkünste zu lernen – hatte sie die Errichtung eines Gebäudekomplexes beaufsichtigt; und sie behielt die Routine bei, sie genau im Auge zu behalten. Jedoch waren die Einwohner von Lokon gegenüber den Besuchern vom Himmel so kooperativ, wie es die gegenseitige Rätselhaftigkeit zuließ. Jeder Instinkt und jede Erfahrung versicherte Evalyth Sairn, dass ihre Zurückhaltung nichts als Ehrfurcht maskierte, vielleicht mit einer sehnsüchtigen Hoffnung auf Freundschaft. Captain Jonafer stimmte dem zu. Nachdem ihre Position somit zu einem ziemlichen Ruheposten geworden war, versuchte sie, genug über Donlis Arbeit zu lernen, um eine nützliche Assistentin zu sein, nachdem er vom Tiefland zurückkehrte.

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